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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Es fiel mir schwer, einen Schüler zu tadeln, der eine so gründliche Beobachtungsgabe an den Tag legte. Jedes Mal, wenn einer dieser Amerikaner an mir vorbeistampfte, musste ich an ihn denken.
    Disney offenbart ein tiefes Verlangen. Das ist es, was man spürt, wenn man sich in dem Zustand befindet, in dem wir uns befanden, wenn alle emotionalen Poren weit geöffnet sind. Verlangen. Für all die Familien steht etwas auf dem Spiel, der Grat zwischen Spaß und Enttäuschung ist messerscharf. Wenn man Leute sieht, deren Kinder eindeutig keinen Spaß haben, sondern schreiend stehen bleiben und an Geschirr und Leine weitergezerrt werden müssen, dann pocht mitfühlende Trauer in einem. Sie haben kein gutes Disney.
    Ich sah Mimi an. Hatte sie Spaß? Mir kam es so vor – sie lächelte. Aber ich wusste auch, dass es damals für meine Eltern manchmal so ausgesehen haben musste, als hätte ich einen Mordsspaß, während mich tief im Innern irgendeine irrationale Sorge quälte. Oh Jugend! Wie viele meiner Gene hatte Mimi geerbt, und wie könnte ich ihr beibringen, das Beste aus ihnen zu machen? Man wünscht seinen Kindern Freude, aber man selbst hat sie in diese Welt des Leidens gebracht.
    Das Mittagessen wurde von Prinzessinnen serviert. Besser
gesagt, Prinzessinnen machten unserem Tisch ihre Aufwartung. Ich vermute, dass die Kellnerinnen in ihren skandinavischen Trachten pseudo-historisch betrachtet die Dienerinnen oder Vasallentöchter der Prinzessinnen sein sollten, Dorfmädchen aus längst vergangenen Zeiten. Ich bestellte Frikadellen und Bier. In dem Teil des Restaurants, in dem wir saßen, starrte alles auf Lil' Dog, der in einer sehr witzigen Position eingeschlafen war: stocksteif und aufrecht saß er in seinem Stuhl, sogar den Kopf hielt er gerade, die Augen waren geschlossen, der Mund stand offen. Es sah grotesk aus, als wäre er ein Langzeitkomapatient, den wir trotzdem mitgenommen hatten. Wir weckten ihn auf, doch er konnte sich nicht konzentrieren oder etwas essen.
    Dornröschen kam hinter der Bühne hervor. Die Mädchen holten ihre Disney-Sammelalben heraus. Ihre Mütter hatten sie ihnen gekauft, während wir Sprühflaschen mit Ventilatoren besorgt hatten, die, wie sich herausstellte, Sonnenbrand im Gesicht verursachten.
    Dornröschen kniete und schrieb ihren Namen in einer riesigen, stilisierten Kursivschrift. Ich stellte mir vor, wie sie die vor dem Einstellungstest geübt hatte. Mimi bebte vor lauter Begeisterung, fast verkrampfte sie.
    »Sag Dankeschön zu der Prinzessin!«
    Später war ich allein, ich weiß nicht mehr genau wieso, aber die anderen waren weg und ich saß auf einer Bank. Ich hatte mich wohl irgendwie abgemeldet von der Veranstaltung. Am anderen Ende der Bank saß eine Familie. Eine große Familie, sowohl numerisch als auch körperlich. Das Mädchen in dem Hightech-Rollstuhl war ungefähr vierzehn Jahre alt und schwerbehindert. Sie begann zu grunzen, sie hatte einen Anfall. Als er vorbei war, saß ich da und hörte zu, wie die Familie darüber stritt, ob man zurück zum Hotel sollte, um sich um die Gesundheit der Tochter zu kümmern, oder ob man bleiben und weiter Spaß haben sollte, der Anfall sei ja vorbei, warum
denn nicht. Fairerweise muss man sagen, dass das Mädchen selbst auch bleiben wollte. Der Park würde nur noch zwei Stunden geöffnet sein. Vielleicht hatten sie seit Jahren von diesem Besuch geträumt.
    Das war noch nicht mal der letzte Tag. Weitere folgten. Es war kaum zu glauben, aber so läuft das, man fügt sich, sonst ist man der Arsch. Shell war unermüdlich, und alle anderen waren auf ihrer Seite, sogar Trevor, der mich, wie mir jetzt klar wurde, als Handlanger benutzt hatte. Er, der fast jedes Jahr herkommen musste, hatte es für sich erträglicher gestaltet, indem er mich mitnahm. Dagegen ist nichts zu sagen, aber er hätte mich vorwarnen können. An einem der Tage waren wir in diesem Wasserpark, Typhoon Lagoon. Auf riesigen Rutschen ging es im nahezu freien Fall hinab. Jede Menge mehr oder weniger abstoßende blasse Körper, darunter meiner, quetschten sich auf den Treppen aneinander. Die Frauen und Lil' Dog saßen unten, um Trevor und mich rutschen zu sehen. Auf dem Weg nach unten kam mir ein Gedanke, ein Kiffergedanke, der trotzdem richtig sein könnte. Normalerweise gibt es bei jedem Rausch einen Gedanken, der auch anschließend noch wahr erscheint, manchmal für den Rest des Lebens, und jetzt dachte ich, dass wir uns, wenn es denn keinen freien Willen gibt, und ich

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