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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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noch so bereit sein, das Büßerhemd anzuziehen, man kommt trotzdem nicht um das Gefühl herum, dass dies die perfekte Art ist, einen Tag in Disney World zu verbringen. Ich war weniger anfällig dafür, ob der dekadenten, spätimperialen Vergänglichkeit all dessen schlechte Laune zu bekommen. Ich dachte nicht mehr zwanghaft daran, welche Firmen Disney ganz oder in Teilen gehören: ESPN , Marvel und ABC , oder war es CBS ? Welche gigantischen Landstriche unserer visuellen Umgebung sind es, die dieses Unternehmen mit vermutlich ebensolcher Akribie gestaltet wie seine Freizeitparks?
    Ich fuhr mit Mimi Achterbahn (auf Zuspruch ihrer Mutter; bei mir war nicht etwa die Abenteuerlust ausgebrochen, Mimi wollte unbedingt). Aber ach – das arme Kind war noch nicht bereit dafür, wie sich zeigte. Die Bahn war klein, aber trotzdem ziemlich schnell. Sobald es nach oben ging, zog Mimi den Kopf ein. Sie schrie nicht einmal, sie hielt sich bloß an der Stange vor ihr fest, nahm den Kopf so weit runter, dass ihr Gesicht fast in ihrem Schoß lag, und während wir durch die Kurven rasten, wiederholte sie immer wieder, wie einen Zauberspruch, die Worte »oh Gott«. Zwei Minuten später war es vorbei. Sie formulierte es so: »Viel Angst, aber ein bisschen Spaß.« Das Kind ist eine so noble Seele! Sie erinnert mich an meine Mutter, sowohl in ihrer Vornehmheit, als auch in der gelegentlich komischen Art, diese zum Ausdruck zu bringen. Einmal aßen wir alle zusammen Pizza in St. Augustine, Florida, als es vor dem Restaurant eine Messerstecherei gab. Meine Mutter packte Mimi und hielt sie, als müssten sie gleich durchs Feuer laufen. »Ich bring dich hier raus, meine Kleine«, sagte sie. Sollte mal die Geheimpolizei nach mir suchen – und nach der Veröffent
lichung dieses Textes könnte es sein, dass Disney sie schickt –, dann wäre es mir viel lieber, eine der Frauen in meinem Leben öffnet die Tür, als irgendeiner der Männer, die ich kenne.
    Wir schauten uns die Leute an. Damit verbringt man die meiste Zeit in Disney World. Es ist in allererster Linie ein Ort, an dem Menschen andere Menschen beobachten (die Schlangen und das endlose Herumlaufen und die überfüllten Futterstationen), um sich zu vergewissern, dass man gemeinsam dort ist, dass dieser Ort es wert war, von überall auf der Welt anzureisen. Keine Ahnung, was wir voneinander dachten, während wir uns ansahen. Als Disney World gebaut wurde, verkörperte es eine weithin geteilte Idee von Amerika als einer reinen kapitalistischen Fantasie. Diese Idee vermittelt es heute nicht mehr; die Idee ist nicht mehr verständlich. Ich weiß nicht, was es heute vermittelt. Die alten Werte sind verloren, die neuen nicht identifizierbar.
    Und trotzdem trifft man, wohin man auch reist, überall auf der Welt erstaunlich viele Menschen, für die Orlando Amerika ist. Wenn man eine dieser Cartoon-Karten aus dem New Yorker über die Sicht der Welt auf Nordamerika zeichnen würde, dann wären die Mauertürme des Magic Kingdom eine ganze Nummer größer als alles andere, das Empire State Building zum Beispiel. Erst kürzlich wurde vermeldet, dass Orlando als erstes US -Urlaubsziel überhaupt fünfzig Millionen Besucher in einem Jahr angelockt hat. Die Auswirkungen der Bewegung solcher Menschenmassen auf die Umwelt müssen gewaltig sein. Man trifft Engländer, man trifft Deutsche, man trifft Lateinamerikaner. Warst du schon mal in den USA ?, fragt man sie, und sie sagen: »In Orlando.«
    Als ich ein Jahr lang an einer Schule in Lima unterrichtete, war der große Held unter den Schülern immer der, der gerade aus Orlando zurückgekommen war. Kein Mensch interessierte sich für Kalifornien oder New York. Einer der Schüler hieß Lucho. Er brachte von seiner Reise einen weißen Umschlag mit,
darin ein Stapel Fotos, die er den anderen zeigen wollte. Und damit dreißig Minuten Unterricht vergeuden? Okay, Lucho, überredet. Leider waren es allesamt Bilder von Frauenhintern. Lucho hatte sich aber nicht für »schöne« oder wohlgeformte Hintern interessiert, sondern ausnahmslos für enorm fette. Fast überall auf der Welt haben sie noch nie Menschen gesehen, die aussehen wie wir. Ich konfiszierte die Bilder und blätterte sie vor der Klasse stehend mit rotem Kopf durch. Eine Großaufnahme nach der anderen von kolossalen, mit Kratern übersäten und in unfassbar enges und verräterisches Elastan eingeschweißten Ärschen. Unser Lucho hatte genügend davon gefunden, um einen ganzen Film zu verknipsen.

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