Puls
Vielleicht hat er eine hinterlassen.«
»Ja«, sagte Tom. »Natürlich musst du das. Und wenn wir dort sind, können wir ja entscheiden, wie's weitergehen soll.« Er sprach noch immer mit dieser schrecklichen Behutsamkeit. Clay wünschte sich fast, Tom würde lachen und zum Beispiel sagen: Komm schon, du armer Trottel - du glaubst doch nicht wirklich, dass du ihn Wiedersehen wirst, oder? Scheiße, sieh die Sache doch realistisch!
Jordan hatte die Mitteilung jetzt zum zweiten Mal, vielleicht zum dritten oder vierten Mal gelesen. Sogar in seinem gegenwärtigen, von Kummer und Entsetzen geprägten Zustand hätte Clay sich am liebsten für Johnnys Rechtschreibund Kommafehler entschuldigt, indem er Jordan daran erinnerte, dass sein Sohn unter schrecklichem Stress geschrieben habe: auf den Stufen vor der Haustür zusammengekauert, verzweifelt kritzelnd, während seine Freunde danebenstanden und das unter ihnen wirbelnde Chaos beobachteten.
Jetzt ließ Jordan den Zettel sinken und fragte: »Wie sieht dein Sohn aus?«
Clay hätte beinahe Warum? gefragt, aber dann überlegte er sich, dass er das lieber nicht wissen wollte. Zumindest nicht gleich. »Johnny ist fast einen Kopf kleiner als du. Stämmig. Dunkelbraunes Haar.«
»Nicht mager. Nicht blond.«
»Nein, das klingt nach seinem Freund George.«
Jordan und Tom wechselten einen Blick. Es war ein ernster Blick, aber Clay glaubte, darin auch Erleichterung zu sehen.
»Was ist?«, sagte er. »Was? Sagt schon.«
»Auf der anderen Straßenseite«, sagte Tom. »Du hast ihn übersehen, weil du gerannt bist. Vor dem übernächsten Haus liegt ein toter Junge. Mager, blond, roter Schulranzen ...«
»Das ist George Gendron«, sagte Clay. Er kannte Georges roten Schulranzen so gut wie Johnnys blauen mit dem reflektierenden Leuchtstreifen. »Johnny und er haben in der vierten Klasse als ihr Geschichtsprojekt ein Puritanerdorf gebaut. Dafür haben sie eine Eins bekommen. George kann nicht tot sein.« Was er natürlich aber war. Clay setzte sich auf die oberste Stufe, die unter seinem Gewicht vertraut knarrte, und brach in Tränen aus.
3
Das Rathaus stand an der Kreuzung Pond und Mill Street vor dem Dorfanger und dem Weiher, dem der Ort seinen Namen verdankte. Bis auf die für Verwaltungskräfte reservierten Plätze war der Parkplatz fast leer, weil die beiden Straßen, die zu dem großen weißen, im viktorianischen Stil erbauten Gebäude führten, mit stehen gelassenen Fahrzeugen verstopft waren. Die Leute waren nahe herangefahren, um möglichst wenig Strecke zu Fuß zurücklegen zu müssen. Für Nachzügler wie Clay, Tom und Jordan war das Ganze deshalb ein mühsamer Hindernislauf. Bereits zwei Querstraßen vor dem Rathaus waren nicht einmal mehr die Vorgärten frei von Autos. Ein halbes Dutzend Häuser waren niedergebrannt. Einige rauchten noch.
Clay hatte die Leiche des Jungen in der Livery Lane zugedeckt -der Tote war tatsächlich Johnnys Freund George -, aber für die vielen aufgedunsenen und verwesenden Toten, auf die sie auf ihrem mühevollen Weg zum Rathaus von Kent Pond stießen, konnten sie nichts tun. Es waren hunderte von Toten, aber im Dunkel sah Clay niemanden, den er kannte. Das wäre vielleicht auch bei Tageslicht nicht anders gewesen. Die Flüchtlingsströme waren seit eineinhalb Wochen Nacht für Nacht unterwegs.
Er musste immer wieder an George Gendron denken, der mit dem Gesicht nach unten auf einem blutigen Laubhaufen gelegen hatte. In seiner Nachricht hatte Johnny geschrieben, er sei mit George und Mitch - dieses Jahr sein zweiter guter Freund in der siebten Klasse - zusammen. Was George zugestoßen war, musste sich folglich ereignet haben, nachdem Johnny die Mitteilung an die Tür geklebt und die drei sich vom Haus der Riddells entfernt hatten. Da nur George im blutigen Laub gelegen hatte, durfte Clay annehmen, dass Johnny und Mitch die Livery Lane lebend verlassen hatten.
Natürlich hält Hoffen und Harren manchen zum Narren, dachte er. Das Evangelium der Alice Maxwell, Gott hab sie selig.
Und es stimmte ja auch. Georges Mörder konnte sie verfolgt und anderswo erwischt haben. Auf der Main Street, auf der Dugway Street, vielleicht auf dem benachbarten Laurel Way. Konnte sie mit einem Schlachtmesser aus Schwedenstahl oder mit zwei abgebrochenen Autoantennen erstochen haben .
Sie erreichten den Rand des zum Rathaus gehörenden Parkplatzes. Zu ihrer Linken stand ein Pick-up, der versucht hatte, ihn übers Gelände zu erreichen, und keine fünf Meter
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