Puls
nur noch einen Sarg und einen weiten Umhang, in den ich mich hüllen kann, wenn ich mich hineinlege, dachte er.
Als am Morgen nach seinem Abschied von Tom und Jordan der Tag rot und kalt anbrach, war er in den Außenbezirken von Springvale. Neben dem Holzfällermuseum Springvale stand ein Häuschen, vermutlich das des Hausmeisters. Es sah gemütlich aus. Clay brach die Hintertür auf und gelangte so hinein. Zu seiner Freude fand er in der Küche einen Holzherd und eine Wasserpumpe vor. Neben der Küche lag eine tipptopp aufgeräumte kleine Speisekammer mit von Plünderern unberührten reichlichen Vorräten. Er feierte seine Entdeckung mit einer großen Schale Haferflocken, die er mit Trockenmilch und Wasser anrührte; dazu gab es reichlich Zucker und eine Hand voll Rosinen obendrauf.
In der Speisekammer fand er auch Rührei mit Schinken als Fertigmischung in Folienpackungen, die in einem Regalfach wie Taschenbücher sauber aufgereiht standen. Er bereitete eine davon zu und stopfte die restlichen Packungen in seinen Rucksack. Es war eine unerwartet reichliche Mahlzeit gewesen, und als Clay sich hinten im Schlafzimmer ausstreckte, schlief er fast augenblicklich ein.
2
Auf beiden Seiten des Highways standen lange Zelte.
Das hier war nicht die Route 11 mit ihren Farmen und Kleinstädten, mit ihren Tankstellenshops in Abständen von ungefähr fünfzehn Meilen, sondern ein Highway irgendwo in der tiefsten Provinz. Düstere Wälder drängten bis fast an die Straßengräben heran. Auf beiden Seiten des weißen Mittelstrichs standen Leute in langen Schlangen an.
Links und rechts, forderte eine Lautsprecherstimme sie auf. Links und rechts, zwei Reihen bilden.
Sie hatte etwas Ähnlichkeit mit der verstärkten Stimme des Bingo-Ausrufers auf dem Rummelplatz in Akron, aber als Clay dem Mittelstrich der Straße folgend näher herankam, erkannte er, dass die Verstärkung allein in seinem Kopf stattfand. Es war die Stimme des Lumpenmanns. Nur war der Lumpenmann lediglich ein - wie hatte Dan ihn genannt? - ein Pseudopodium. Und was Clay da hörte, war eigentlich die Stimme des Schwarms.
Links und rechts, so ist's richtig. So kommen wir weiter.
Wo bin ich? Warum sieht mich niemand an und sagt: »He, Kumpel, nicht vordrängeln, warte gefälligst, bis du an der Reihe bist«?
Vor ihm verzweigten die beiden Schlangen sich wie an einer Mautstelle: eine verschwand in dem Zelt links der Straße, die andere in dem rechts. Die Zelte waren lange Gebilde von der Art, wie Zeltverleihe sie aufstellten, damit Büfetts unter freiem Himmel an heißen Nachmittagen im Schatten stattfinden konnten. Clay konnte sehen, dass die beiden Schlangen sich kurz vor den Zelten in zehn oder zwölf kürzere Reihen aufspalteten. Diese Leute sahen wie Fans aus, die darauf warteten, dass ihre Karte abgerissen und sie zu einem Open-Air-Konzert eingelassen wurden.
An der Stelle, wo die Doppelschlange sich teilte und nach links und rechts wegkurvte, stand mitten auf der Straße der Lumpenmann selbst - nach wie vor in seiner fadenscheinigen roten Kapuzenjacke.
Links und rechts, meine Damen und Herren. Alles ohne Mundbewegung. Aufs Äußerste gesteigerte Telepathie, durch die Energie des Schwarms verstärkt. Bitte zügig weitergehen. Jeder bekommt Gelegenheit, einen Angehörigen anzurufen, bevor er in die No-Fo-Zone geht.
Das versetzte Clay einen Schock, aber es war der Schock des Bekannten - wie die Pointe eines guten Witzes, den man das erste Mal vor zehn oder fünfzehn Jahren gehört hat. »Wo ist das?«, fragte er den Lumpenmann. »Was tust du? Was zum Teufel geht hier vor?«
Aber der Lumpenmann sah ihn nicht an, und Clay wusste natürlich, weshalb. Das hier war die Route 160 kurz vor Kashwak, und er besuchte sie im Traum. Und was hier vorging .
Das ist Telefonbingo, dachte er. Das ist Telefonbingo, und dies sind die Zelte, in denen es gespielt wird.
Immer zügig weiter, meine Damen und Herren, sendete der Lumpenmann. Bis Sonnenuntergang sind es noch zwei Stunden, und wir wollen möglichst viele von Ihnen abfertigen, bevor wir für heute Schluss machen müssen.
Abfertigen.
War das ein Traum?
Clay folgte der Schlange, die auf das links der Straße errichtete Pavillonzelt zukurvte, und wusste, was er sehen würde, noch bevor er es wirklich sah. Wo die kürzeren Reihen endeten, stand jeweils einer der Handy-Leute, einer jener Liebhaber von Lawrence Welk, Dean Martin und Debby Boone. Sobald wieder jemand das Ende erreichte, hielt der bereitstehende
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