Puls
Hügel. Dort stand der Lumpenmann, dessen HARVARD-Kapuzenjacke schmutziger denn je war, aber sich noch immer hell vor dem grauen Nachmittagshimmel abhob, und sah sie an. Ungefähr fünfzig weitere Phoner umgaben ihn. Er hob eine Hand und winkte ihnen mit einer merkwürdigen Seitwärtsbewegung, als würde er eine Windschutzscheibe säubern, zweimal zu. Dann wandte er sich ab und ging davon, wobei sein Gefolge (sein Kleinschwarm, dachte Clay) sich ihm in einer Art Keilformation anschloss. Bald waren sie außer Sicht.
VIRUS
1
Sie hielten auf einem Rastplatz etwas weiter nördlich an der Straße. Niemand war besonders hungrig, aber für Clay war es eine gute Gelegenheit, seine Fragen zu stellen. Ray aß überhaupt nichts; er saß einfach nur auf der windabgewandten Seite der Gruppe auf der Steinmauer einer Grillstelle, rauchte und hörte zu. An der Unterhaltung beteiligte er sich mit keinem Wort. Auf Clay wirkte er völlig entmutigt.
»Wir denken, dass wir hier halten«, sagte Dan mit einer Handbewegung, die den kleinen Rastplatz mit seiner Umrahmung aus Tannen und herbstlich bunten Laubbäumen, seinen murmelnden Bach und seinen Wanderweg umfasste, an dessen Anfang ein Schild warnte: WANDERN? NEHMEN SIE EINE KARTE MIT! »Vermutlich halten wir hier, weil ...« Er blickte zu Jordan hinüber. »Würdest du sagen, dass wir hier halten, Jordan? Du scheinst das immer am deutlichsten wahrzunehmen.«
»Ja«, sagte Jordan sofort. »Das hier ist real.«
»Jawoll«, sagte Ray ohne aufzusehen. »Wir sind hier, das steht fest.« Als er mit der flachen Hand auf die Steinmauer der Grillstelle schlug, klickte sein Ehering leise metallisch: tink-tink-tink. »Das alles ist wirklich. Wir sind alle wieder zusammen, mehr wollten die nicht.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Clay.
»Wir auch nicht, jedenfalls nicht völlig«, sagte Dan.
»Sie sind viel stärker, als ich je vermutet hätte«, sagte Tom. »So viel weiß ich immerhin.« Er nahm die Brille ab und rieb die Gläser an seinem Hemd. Es war eine müde, zerstreute Geste. Er sah zehn Jahre älter aus als der Mann, dem Clay in Boston begegnet war. »Und sie haben in unser Denken eingegriffen. Nachdrücklich. Wir hatten nie eine Chance.«
»Ihr seht alle ziemlich erschöpft aus«, sagte Clay.
Denise lachte. »Wirklich? Tja, dazu sind wir auf ehrliche Weise gekommen. Nachdem wir uns getrennt haben, haben wir die Route 11 nach Westen genommen. Wir sind marschiert, bis es hinter uns im Osten hell geworden ist. Ein Fahrzeug zu organisieren wäre Zeitverschwendung gewesen, weil die Straßenverhältnisse beschissen schlecht waren. Ab und zu war zwar eine Viertelmeile ganz frei, aber dann .«
»Straßenriffe, ich weiß«, sagte Clay.
»Ray hat gesagt, das würde westlich der Spaulding Turnpike besser werden, aber wir haben beschlossen, den Tag in einem Motel zu verbringen, das Twilight Motel hieß.«
»Von dem habe ich schon gehört«, sagte Clay. »Am Rand der Vaughan Woods. Bei uns zu Hause ist es ziemlich berüchtigt.«
»Wirklich? Na gut.« Sie zuckte die Achseln. »Wir laufen also dort ein, und der Kleine - Jordan - sagt: ›Ich mache euch das größte Frühstück, das ihr je gegessen habt.‹ Wir sagen: ›Träum nur weiter, Kleiner‹, was irgendwie komisch war, denn schließlich war alles eine Art Traum - aber dort gibt's Strom, und er tut, was er versprochen hat. Er macht uns ein riesiges Frühstück. Wir hauen alle begeistert rein. Es ist das Frühstück aller Frühstücke. Erzähle ich das richtig, Jungs?«
Dan, Tom und Jordan nickten. Ray, der immer noch auf der Steinmauer der Grillstelle saß, zündete sich nur eine weitere Zigarette an.
Nach Denise' Schilderung hatten sie im Speisesaal gegessen, was Clay faszinierend fand, weil er sicher wusste, dass das Twilight keinen Speisesaal hatte; es war ein einfaches, absolut verschwiegenes Motel genau auf der Grenze zwischen Maine und New Hampshire. Gerüchten nach gab es in den schuhkartongroßen Zimmern dort als einzigen Luxus kalte Duschen und heiße Pornofilme im Fernseher.
Die Geschichte wurde noch unheimlicher. Es hatte eine Musikbox gegeben. Aber statt mit Lawrence Welk und Debby Boone war sie mit heißem Zeug (darunter »Hot Stuff« von Donna Summer) voll gestopft gewesen, und statt gleich ins Bett zu fallen, hatten sie zwei bis drei Stunden lang getanzt - eifrig getanzt. Und bevor sie zu Bett gegangen waren, hatten sie ein weiteres üppiges Mahl vertilgt, diesmal von Denise zubereitet. Erst danach waren sie
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