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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Ricardi sich letztlich doch anständig verhalten hatte. Vielleicht taten das ja die meisten Leute, wenn sie die Gelegenheit dazu bekamen.
    Aus Westen, von der zum Stadtpark zurückführenden nachtdunklen Straße, kam ein Schrei, der zu laut gellte, um aus einer menschlichen Lunge stammen zu können. Clay fand, dass es fast wie das Trompeten eines Elefanten klang. Aus dem Schrei sprach weder Schmerz noch Freude, sondern nur Wahnsinn. Alice duckte sich unwillkürlich, weshalb er ihr einen Arm um die Schultern legte. Ihr Körper fühlte sich an wie ein Elektrokabel, das unter Hochspannung stand.
    »Wenn wir hier rauswollen, müssen wir los«, sagte McCourt. »Sollten wir einigermaßen glatt durchkommen, müssten wir's in Richtung Norden bis nach Malden schaffen. Dort können wir in meinem Haus übernachten.«
    »Das ist eine verdammt gute Idee«, sagte Clay.
    McCourt lächelte zurückhaltend. »Finden Sie wirklich?«
    »Na klar! Wer weiß, vielleicht ist Officer Ashland schon dort.«
    »Wer ist Officer Ashland?«, fragte Alice.
    »Ein Polizeibeamter, den wir am Stadtpark kennen gelernt haben«, sagte McCourt. »Er ... na ja, er hat uns beigestanden.« Die drei gingen jetzt im Ascheregen und beim Schrillen von Alarmanlagen in Richtung Atlantic Avenue. »Wir werden ihn allerdings nicht Wiedersehen. Clay versucht nur, witzig zu sein.«
    »Oh«, sagte sie. »Freut mich, dass das jemand versucht.« Auf dem Asphalt vor einem Abfallkorb lag ein blaues Handy mit gesprungenem Gehäuse. Alice kickte es in den Rinnstein, ohne dabei aus dem Tritt zu kommen.
    »Guter Schuss«, sagte Clay.
    Alice zuckte die Achseln. »Fünf Jahre Fußball«, sagte sie, und in diesem Augenblick flammte die Straßenbeleuchtung wie ein Versprechen auf, dass noch nicht alles verloren sei.

MALDEN
1
    Auf der Mystic River Bridge standen tausende von Menschen und sahen zu, wie alles zwischen der Commonwealth Avenue und dem Hafen Feuer fing und verbrannte. Der Wind aus Westen blieb selbst nach Sonnenuntergang lebhaft und warm, und die Flammen röhrten wie Schmiedeessen und überstrahlten die Sterne. Der aufgehende Vollmond bot letztlich ein scheußliches Bild. Manchmal blieb er hinter dem Rauch verborgen, aber allzu oft schwamm dieses hervorquellende Drachenauge hervor, spähte auf die Erde herab und übergoss sie mit mattem orangerotem Licht. Clay hielt ihn für einen Horrorcomic-Mond, sagte das aber nicht laut.
    Niemand hatte viel zu reden. Die Menschen auf der Brücke hatten nur Augen für die Stadt, die sie erst vor kurzem verlassen hatten; sie beobachteten, wie die Flammen die teuren Eigentumswohnungen am Hafen erfassten und zu verzehren begannen. Von jenseits des Wassers hallte ein Geräuschteppich aus Alarmtönen herüber: hauptsächlich Brandmelder und Autoalarmanlagen, in die sich mehrere heulende Sirenen mischten, um dem Ganzen etwas Würze zu geben. Eine Zeit lang hatte eine Lautsprecherstimme die Bürger aufgefordert: RÄUMEN SIE DIE STRASSEN, und dann hatte eine andere angefangen, ihnen zu empfehlen: VERLASSEN SIE DIE STADT ZU FUSS ÜBER DIE NACH NORDEN UND WESTEN FÜHRENDEN HAUPTVERKEHRSADERN. Diese beiden widersprüchlichen Empfehlungen hatten mehrere Minuten lang miteinander konkurriert, dann war RÄUMEN SIE DIE STRASSEN verstummt. Etwa fünf Minuten später hatte auch VERLASSEN SIE DIE STADT ZU FUSS aufgehört. Jetzt waren nur noch das hungrige Tosen der vom Wind angefachten Flammen, die Alarmanlagen und immer wieder kleine dumpfe Knalle zu hören, die nach Clays Meinung von in der Hitze implodierenden Fenstern stammen mussten.
    Er fragte sich, wie viele Leute wohl dort drüben in der Falle saßen. Gefangen zwischen Feuer und Wasser.
    »Wissen Sie noch, wie wir überlegt haben, ob eine moderne Großstadt brennen kann?«, sagte Tom McCourt. Im Feuerschein sah sein kleines, intelligentes Gesicht müde und angewidert aus. Auf der linken Backe hatte er einen Aschefleck. »Erinnern Sie sich?«
    »Das will ich jetzt wirklich nicht hören«, sagte Alice. Sie war sichtlich verstört, sprach aber wie McCourt nur gedämpft. Als wären wir in einer Bibliothek, dachte Clay. Und dann dachte er: Nein - in einer Leichenhalle. »Können wir bitte weitergehen? Mir geht das hier nämlich langsam auf den Keks.«
    »Klar«, sagte Clay. »Machen wir. Wie weit ist's bis zu Ihnen denn, Tom?«
    »Weniger als zwei Meilen«, sagte er. »Aber wir haben noch nicht alles hinter uns, wie ich leider sagen muss.« Sie sahen jetzt alle nach Norden, und er deutete nach vorn

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