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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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adrette Locken aus dem Frisiersalon gelegt. Sie trug eine Brille mit kleinen ovalen Gläsern und etwas, was Clays Mutter als Autocoat bezeichnet hätte. In der linken Hand hielt sie eine Tragetasche, in der rechten ein Buch. Sie wirkte völlig harmlos. Ganz bestimmt war sie keine der Handy-Verrückten - von denen hatten sie keinen einzigen mehr gesehen, seit sie das Atlantic Avenue Inn mit ihren Futterbeuteln verlassen hatten -, aber Clay merkte, dass er trotzdem eine Abwehrhaltung einnahm. Angesprochen zu werden, als wären sie auf einer Cocktailparty statt auf der Flucht aus einer brennenden Großstadt, erschien ihm nicht normal. Aber was war unter den gegenwärtigen Umständen eigentlich noch normal? Vielleicht war Clay ja selbst kurz davor, durchzudrehen, aber wenn dem so war, dann erging es Tom nicht anders. Auch er beobachtete die mollige, mütterliche Frau mit argwöhnischem Blick.
    »Alice?«, sagte Alice schließlich, als Clay schon glaubte, das Mädchen würde überhaupt nicht mehr antworten. Es klang, als wollte ein Schulkind eine eigentlich zu schwere Frage beantworten, eine Frage, von der es befürchtete, sie könnte eine Fangfrage sein. »Mein Name ist Alice Maxwell?«
    »Alice«, sagte die mollige Frau, und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem mütterlichen Lächeln, das so freundlich wie ihr interessierter Blick war. Es gab keinen Grund, weshalb dieses Lächeln Clay noch mehr aufbringen sollte, aber dennoch tat es das. »Das ist ein wundervoller Name. Er bedeutet ›von Gott gesegnet‹.«
    »Eigentlich, Ma'am, bedeutet er ›aus edlem Geblüt‹ oder königlich geboren««, sagte McCourt. »Entschuldigen Sie uns jetzt bitte? Das Mädchen hat heute seine Mutter verloren, und ...«
    »Wir haben heute alle jemanden verloren, nicht wahr, Alice?«, sagte die Mollige, ohne McCourt anzusehen. Sie ging neben Alice her, wobei ihre Friseurlocken bei jedem Schritt mitwippten. Alice betrachtete sie mit einer Mischung aus Unbehagen und Faszination. Um sie herum marschierten andere und hasteten manchmal und stapften oft mit gesenktem Kopf dahin, kaum mehr als Gespenster in dieser ungewohnten Dunkelheit, und Clay sah noch immer keine Jüngeren außer ein paar Babys, einigen Kleinkindern und Alice. Keine Jugendlichen, weil die meisten Jugendlichen nicht anders als Pixie Light am Mister-Softee-Wagen ein Handy besaßen. Oder wie sein eigener Sohn, der ein rotes Nextel mit einem Klingelton aus The Monster Club und eine als Lehrerin berufstätige Mama hatte, die bei ihm sein konnte, wenn sie nicht sonst wo .
    Schluss jetzt! Diese Ratte darfst du nicht rauslassen. Diese Ratte kann nur rennen, beißen und dem eigenen Schwanz nachjagen.
    Die mollige Frau nickte inzwischen weiter. Die Locken wippten im Takt dazu. »Ja, wir haben alle jemanden verloren, weil jetzt die Zeit der großen Drangsal ist. Das steht alles hier drin, in der Offenbarung des Johannes.« Sie hielt das Buch hoch, das sie in der Hand hielt, und natürlich war es eine Bibel, und nun glaubte Clay, das Glitzern in den Augen hinter den ovalen Brillengläsern der Molligen besser erkennen zu können. Das war nicht freundliches Interesse; das war Irrsinn.
    »Okay, das war's, alles raus aus dem Schwimmbecken«, sagte McCourt. In seiner Stimme hörte Clay eine Mischung aus Abscheu (vermutlich vor sich selbst, weil er überhaupt zugelassen hatte, dass die Mollige sich an Alice heranmachte) und Bestürzung.
    Die mollige Frau beachtete ihn natürlich gar nicht; sie fixierte Alice mit starrem Blick, und wer hätte sie von der Seite des Mädchens wegziehen sollen? Die Polizei war anderweitig beschäftigt, falls sie überhaupt noch im Einsatz war. Hier gab es nur die unter Schock stehenden und sich dahinschleppenden Flüchtlinge, die sich keinen Deut um eine ältliche Verrückte mit einer Bibel und einer Dauerwelle aus dem Frisiersalon scherten.
    »Die Schale des Wahnsinns ist in die Gehirne der Sündigen ausgegossen worden, und die reinigende Fackel Je-HO-vas hat die Stadt der Sünde in Brand gesetzt!«, rief die Mollige aus. Sie trug roten Lippenstift. Ihre Zähne waren zu ebenmäßig, um etwas anderes als ein altmodisches Gebiss zu sein. »Jetzt siehst du die Unbußfertigen fliehen, gewisslich wahr, wie Maden aus dem aufgeplatzten Bauch von ...«
    Alice hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. »Macht, dass sie aufhört!«, rief sie, aber die schemenhaften Gestalten der ehemaligen Großstädter zogen unberührt weiter, und nur wenige hatten einen teilnahmslosen,

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