Puls
dunkel wird. Sie könnte Recht haben.«
»Aber wohin? Wo gehen sie hinein? Habt ihr welche in den Häusern hier verschwinden gesehen?«
»Nein.« Sie sagten das im Chor.
»Sie sind nicht alle zurückgekommen«, sagte Alice. »Bisher sind auf keinen Fall so viele die Salem Street raufgekommen, wie heute Morgen runtergegangen sind. Also sind noch viele im Stadtzentrum oder weiter dahinter. Vielleicht werden sie ja von großen Gebäuden wie Turnhallen oder so angezogen ...«
Turnhallen. Der Klang dieses Wortes gefiel Clay nicht.
»Hast du den Film Dawn of the Dead gesehen?«, fragte sie ihn.
»Ja«, sagte Clay. »Aber du willst hoffentlich nicht behaupten, dass jemand dich ins Kino gelassen hat, damit du dir den ansehen konntest?«
Sie sah ihn an, als wäre er nicht ganz dicht. Oder nicht mehr der Jüngste. »Eine Freundin von mir hatte mal die DVD. Die haben wir uns angesehen, als ein paar von uns bei ihr übernachtet haben. Da waren wir erst in der Achten.« Damals als Pony-Express-Kutschen noch unterwegs waren und die Prärie vor lauter Büffeln ganz schwarz war, sagte ihr Ton. »In dem Film sind alle Toten - okay, nicht alle, aber viele - wieder ins Einkaufszentrum gegangen, als sie wieder aufgewacht sind.«
Tom McCourt glotzte sie einen Augenblick an, dann brach er in Gelächter aus. Es handelte sich nicht nur um ein kleines Lachen, sondern um eine lange Folge von Lachsalven, die ihn so schüttelten, dass er sich Halt suchend an die Wand lehnen musste und Clay es für angebracht hielt, die Tür zur Veranda zu schließen. Er hatte keine Ahnung, wie gut die Nachzügler draußen auf der Straße hörten; im Augenblick konnte er nur daran denken, wie äußerst scharf das Gehör des wahnsinnigen Ich-Erzählers in »Das verräterische Herz« von Edgar Allan Poe gewesen war.
»Nun, sie haben's getan«, sagte Alice und stemmte die Arme in die Hüften. Der kleine Turnschuh zappelte. »Direkt ins Einkaufzentrum.« Tom grölte noch lauter. Seine Knie gaben unter ihm nach, und er rutschte langsam auf den Fußboden im Flur, während er vor Lachen heulte und sich mit flachen Händen auf die Brust schlug.
»Sie sind gestorben ...«, keuchte er, »... und dann auferstanden ..., um einkaufen zu gehen. Jesus, weiß Jerry F-Falwell ...« Ein nochmaliger Lachanfall. Über die Wangen liefen ihm jetzt Ströme von Lachtränen. Dann beherrschte er sich schließlich so weit, dass er den Satz beenden konnte: »Weiß dieser Fernsehprediger Jerry Falwell, dass das Paradies nichts als ein Einkaufzentrum ist?«
Auch Clay musste nun lachen. Alice fiel ebenfalls ein, obwohl Clay den Eindruck hatte, dass sie leicht sauer war, weil ihr Hinweis nicht interessiert oder wenigstens nur leicht belustigt, sondern geradezu mit schallendem Gelächter aufgenommen wurde. Aber wenn Leute zu lachen begannen, war es nun einmal schwierig, nicht mit einzufallen. Selbst wenn man sauer war.
Sie hatten schon fast aufgehört, als Clay unvermittelt sang: »If heaven ain't a lot like Dixie, I don 't want to go.«
Das ließ sie erneut in Gelächter ausbrechen, alle drei. Alice lachte noch, als sie sagte: »Wenn sie in Schwärmen unterwegs sind und sich tatsächlich zum Schlafen in Turnhallen und Kirchen und Einkaufszentren begeben, könnten Leute mit Maschinengewehren sie auf einen Schlag zu hunderten niedermähen.«
Clay hörte als Erster zu lachen auf. Dann verstummte auch McCourt. Er sah sie an, wischte sich Nässe aus seinem sauberen kleinen Schnurrbart.
Alice nickte. Das Lachen hatte ihre Wangen rosig gefärbt, und sie lächelte weiter. Zumindest im Augenblick war sie über bloßes Hübschsein hinausgewachsen und zu einer wirklichen Schönheit geworden. »Vielleicht zu tausenden, wenn sie alle dasselbe Ziel haben.«
»Jesus«, sagte McCourt. Er nahm seine Brille ab, um sie ebenfalls abzuwischen. »Du machst keine halben Sachen.«
»Ich will überleben«, sagte Alice nüchtern. Sie betrachtete kurz den an ihrem Handgelenk befestigten Turnschuh, dann sah sie wieder zu den Männern auf. Sie nickte nochmals. »Wir sollten wirklich ihre Bewegungen aufzeichnen. Um festzustellen, ob sie schwärmen und wann sie schwärmen. Ob sie sich niederlassen und wann sie sich niederlassen. Wenn es uns gelingt, das alles aufzuzeichnen .«
18
Clay war es gewesen, der sie alle aus Boston herausgeführt hatte, aber als die drei ungefähr vierundzwanzig Stunden später das Haus in der Salem Street verließen, hatte die fünfzehnjährige Alice Maxwell eindeutig das
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