Puls
keuchte mehrmals rasch. »Mein Bruder hat mir zum fünfundsechzigsten Geburtstag eines geschenkt. Ich habe das Ding sich entladen lassen ...« Keuch, schnauf. »Und einfach nie wieder geladen. Handys geben Strahlung ab, ist Ihnen das bewusst? In winzigen Mengen, gewiss, aber trotzdem . eine Strahlungsquelle, die man dicht am Kopf hat ... am Gehirn.«
»Sir, Sie sollten warten, bis wir am Tonney sind«, sagte Jordan. Er stützte Ardai, weil der Krückstock auf einem verfaulten Stück Obst ausgerutscht war und der alte Rektor einen kurzen Augenblick lang (allerdings in beängstigendem Winkel) nach Backbord krängte.
»Vielleicht keine schlechte Idee«, sagte Clay.
»Ja«, stimmte der Rektor zu. »Nur . ich habe ihnen nie getraut, darauf will ich hinaus. Mit meinem Computer war's von Anfang an anders. Bei dem habe ich mich sofort in meinem Element gefühlt.«
Auf dem Hügelkamm gabelte sich der durch den Campus führende Hauptweg. Die linke Abzweigung schlängelte sich zu Gebäuden weiter, bei denen es sich offensichtlich um Schülerwohnheime handelte. Die rechte führte zu Hörsaalgebäuden, einer Ansammlung von Verwaltungsgebäuden und einem Torbogen, der weiß aus dem Dunkel hervorleuchtete. Der Fluss aus Abfällen und weggeworfenen Packungen strömte darunter hinweg. Rektor Ardai führte sie in diese Richtung und wich dem Müll nach Möglichkeit aus, während Jordan ihn am Ellbogen gefasst hielt. Die Musik -jetzt sang Bette Midler »The Wind Beneath My Wings« - kam von jenseits des Torbogens, und Clay sah Dutzende von CDs zwischen den Knochen und leeren Kartoffelchipsbeuteln. Allmählich wurde ihm wegen dieser ganzen Sache unbehaglich zumute.
»Äh, Sir? Rektor? Vielleicht sollten wir einfach ...«
»Keine Sorge«, antwortete der Schulleiter. »Haben Sie als Kind jemals Reise nach Jerusalem gespielt? Natürlich haben Sie das. Nun, solange die Musik nicht abbricht, haben wir nichts zu befürchten. Wir sehen uns nur schnell um, dann gehen wir zur Cheatham Lodge hinüber. Das ist meine Dienstvilla. Keine zweihundert Meter vom Tonney Field entfernt, das versichere ich Ihnen.«
Clay sah zu Tom hinüber, der nur die Achseln zuckte. Alice nickte wortlos.
Jordan, der sich zufällig (und ziemlich besorgt) nach ihnen umsah, beobachtete die stumme Verständigung. »Sie sollten es sich wirklich ansehen«, sagte er. »Der Rektor hat Recht. Man weiß erst Bescheid, wenn man's gesehen hat.«
»Was gesehen, Jordan?«, fragte Alice.
Aber Jordan starte sie nur an: große junge Augen im Dunkel. »Abwarten«, sagte er.
13
»Heiliger gottverdammter Scheiß«, sagte Clay. In seiner Vorstellung klangen diese Worte wie ein kraftvoller Aufschrei voller Überraschung und Entsetzen, vielleicht mit einer Prise Empörung gewürzt - aber was tatsächlich herauskam, war eine Art wehleidiges Wimmern. Das mochte zum Teil daran liegen, dass die Musik aus dieser Nähe tatsächlich fast so laut wie bei jenem lange zurückliegenden AC/DC-Konzert war (obwohl Debby Boone, die mit reizender Schulmädchenstimme »You Light Up My Life« sang, sich auch bei voller Lautstärke doch sehr von »Hell's Bells« unterschied), aber hauptsächlich steckte reine Schockiertheit dahinter. Er hatte geglaubt, nach dem Puls und ihrem anschließenden Auszug aus Boston gegen alles gewappnet zu sein, aber er hatte sich getäuscht.
Er glaubte nicht, dass solche Privatschulen sich mit etwas abgegeben hatten, was so plebejisch (und brutal) war wie Football; Fußball dagegen musste hier eine große Sache gewesen sein. Die Tribünen auf beiden Seiten des Sportplatzes schienen bis zu tausend Sitzplätze zu haben und waren mit Girlanden in patriotischen Farben behängt, die jetzt nach dem Schauerwetter der letzten Tage traurig durchnässt herabzuhängen begannen. Am anderen Ende des Spielfelds ragte eine moderne elektronische Anzeigetafel auf, an deren Oberkante hohe Stehbuchstaben mehrere Wörter bildeten. Clay konnte sie in der Dunkelheit nicht lesen und hätte sie vermutlich normalerweise nicht beachtet, selbst wenn es Tag gewesen wäre. Das vorhandene Licht reichte eben aus, um das Spielfeld erkennen zu können, und nur darauf kam es an.
Jeder Quadratzentimeter Rasen war mit Handy-Verrückten bedeckt. Sie lagen auf dem Rücken wie Sardinen in der Dose: Bein an Bein und Hüfte an Hüfte und Schulter an Schulter. Mit dem Gesicht starrten sie zu dem schwarzen Himmel kurz vor Tagesanbruch auf.
»O mein Gott«, sagte Tom. Seine Stimme klang gedämpft, weil er eine
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