Puppenbraut
einem Lächeln und winkte zurück. „Toll, Schatz!“
Doch ihre Gedanken wanderten unweigerlich zu ihrer Mutter zurück. Wann war sie dieser Frau ähnlich geworden? Soweit sie sich an die Erzählungen ihrer Großmutter erinnern konnte, war Abigail Parker das einzige der fünf Kinder, das in regelmäßigen Abständen mit ‘Begleitung’ zu Hause auftauchte. Mal war es ein Kätzchen, das sie vor Quälereien der Jugendlichen gerettet hatte, mal ein Hund, den sie irgendwo angebunden fand.
Eines Tages tauchte ihre Mutter sogar mit einem kleinen Kind auf, das sie auf dem Schulhof ‘gefunden‘ hatte. Der kleine Junge war damals aus einem Kinderheim weggelaufen, weil er eine ‘richtige’ Familie haben wollte. Doreens Großmutter schaffte es aber fast immer, all diese Wesen dort abzuliefern, wo sie rechtmäßig hingehörten. Doch eine Sache konnte sie nicht verhindern.
Abigail Parker vererbte ihre Hilfssucht an manche ihrer Töchter weiter. Als Cassy vor ein paar Jahren das erste Mal den Wunsch nach einem Hund äußerte, wunderte sich Doreen nicht mehr. Doch eines war ihr klar: Sobald eine Parker Verantwortung für ein Wesen übernahm, wurde es wie eine Hochzeit – eine Verbindung bis zum Tode und ohne zu jammern, wenn Schwierigkeiten auftauchen sollten.
„Mommy, schau mal! Ich kann balancieren!“ Erneut warf sie Cassys Stimme aus ihrer Gedankenwelt heraus. „Super, Schatz!“, klang es eher desinteressiert.
‘Was ist bloß mit mir los?’, versuchte sie sich zur Raison zu rufen. Sie waren gerade auf einem halb leeren Spielplatz, wo ein Kind verschwunden war. Anstatt sich auf die Suche nach Hinweisen zu begeben, schwebte sie in Kindheitserinnerungen und vernachlässigte ihre journalistische Arbeit.
Doch eine winzige Schweigeminute wollte Doreen ihrer geliebten Mutter noch schenken. Sie schaute zu Boden, schloss die Augen, um andere Sinneseindrücke auszuschalten. Ganz tief holte sie Luft, die sie in der Lunge verweilen ließ. Vor ihrem geistigen Auge liefen Bilder ab, die sich zu einem wundervollen Gesamtwerk fügten. Eindrücke aus ihrer Kindheit, Jugend, und der Zeit, als sie ihre Mutter auf dem letzten Weg begleitete. Es war eine Art Hommage zu Ehren einer geliebten Person, die im Grunde noch in ihren Gedanken weiterlebte. Ein würdiger Ersatz zum Besuch des Friedhofs, was sie nach Möglichkeit immer mied.
Voller Liebe ließ sie langsam die Luft aus ihrem Körper entweichen, um die Kraft für ihre jetzige Bestimmung heraufzubeschwören. Doreen öffnete langsam die Augen und lächelte ihre Tochter an.
„Großartig, Cassy!“, lobte sie ihr Kind, obwohl ihr das Herz angesichts der Waghalsigkeit der dargestellten Übung fast stehen blieb. Ihre Tochter balancierte gerade auf einem Klettergerüst, das drei Meter über dem Boden aufragte. Auch diese Eigenschaft, niemals aufzugeben, gehörte zu dem weitgehenden Erbe von Abigail Parker.
Doreen versuchte ihre Ängste umzulenken, indem sie sich im Boerum Park umsah. Heute war ein recht warmer Vormittag, was in Anbetracht der spätsommerlichen Jahreszeit zu erwarten war. Die Sonne ließ sich nur schwer in Gang bringen. Doch auch die Luft hing schwer, wie ein dicker Schleier. Als wollte sie verhindern, dass ihre kostbaren Lichtstrahlen die Gesichter der Parkbesucher streiften.
Fast wie von selbst wanderten Doreens Augen nochmal zu der Stelle, wo die Mädchen von dem Täter mit der Fotokamera erwischt worden waren. Was sie jedoch fand, war ein Büschel Gras. Mehr nicht.
„Baaaaah!“ Die Stimme ihrer Tochter ließ sie vor Schreck hochfahren. Kurzfristig hatte sie das Gefühl, als wäre ihr Herz stehen geblieben. Dass sie auf Unerwartetes immer so panisch reagieren musste, ärgerte sie immerzu. Cassy grinste sie an. Sie wollte zwar ihre Mutter erschrecken, doch nicht in diesem Ausmaß, wie es ihr tatsächlich gelungen war. Doreen atmete tief durch und setzte wieder ein Lächeln auf. Ihr Pulsschlag lag immer noch weit außerhalb des Normalzustandes.
„Mausi, du kannst wirklich sehr gut klettern!“, entschied sie sich, das Problem nicht erneut anzugehen. Ihre Neigung zur Schreckhaftigkeit hatten sie schon so oft thematisiert, dass sie darauf heute lieber verzichten wollte. „Alle Achtung, du könntest im Zirkus auftreten. Klasse!“
Das Gesicht von Cassy erhellte sich. Während die Kleine voller Freude ihre Milchzahnlücken entblößte, wandte sich ihre Mutter in Gedanken der Arbeit zu.
„Mommy, haben wir was zu trinken? Ich habe Durst!“
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