Puppenbraut
Cassy zog dabei das „u“ im ‘Durst’ so dramatisch in die Länge, dass sie die Ernsthaftigkeit dieser Aussage überaus glaubhaft machen konnte.
Doreen versuchte, ihre Gedanken auf die eben gestellte Frage zu fokussieren.
„Hmmm... Trinken? Hmmm.. Mist! Nein, das Getränk habe ich natürlich vergessen!“ Ihre Hand wanderte reflexartig an die Stirn. Sie sah sich unbeholfen um, dem Wunsch ihres Kindes sofort zu entsprechen. Ihr kleines Baby von früher, das Cassy zweifelsohne für sie noch war, konnte sie für immer nicht aus ihrem Kopf verbannen. Dabei war dieses Kind kein Säugling mehr!
Der kleine Kiosk im Park kam ihr plötzlich in den Sinn. Hatten sie dort nicht auch Getränke?
„Komm, Mausi! Wir kaufen uns etwas zu trinken! Ich könnte auch einen Kaffee vertragen!“ Hand in Hand folgte das kleine Mädchen ihrer Mutter mit einem kleinen Schritt Abstand. ‘Eines Tages werde ich mich nach dieser kleinen, warmen Kinderhand sehnen. Vielleicht dauert es nicht einmal so lange, wie es mir gerade vorkommt!’, dachte Doreen ein wenig bedrückt.
*****
Das kleine Glöckchen an der Tür läutete ganz leise. Doreen überlegte, ob sie den Klang beim letzten Mal schon wahrgenommen hatte, doch sie konnte sich partout nicht erinnern. Cassy rannte wie ferngesteuert zum Regal mit den Pferdezeitschriften.
„Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Eine melodische Stimme unterbrach plötzlich die herrschende Stille. Der Begrüßungsfloskel folgte das Bild einer jungen und sehr attraktiven Frau in Ivys Alter.
„Wir wollten nur etwas zu trinken holen. Könnten Sie für meine Tochter ein Wasser...“ Sie wurde von Cassys lautem Protest unterbrochen.
„Nee, ich will eine Cola!“ Doreen konnte schwören, dass ihr Kind die ganze Aufmerksamkeit der vollgestopften Zeitschriftenwand gewidmet hatte. Diese selektive Wahrnehmung bei Kindern war schon erstaunlich, wenn man bedachte, wie wenig Reaktion erfolgte, wenn ihre Mutter über das unaufgeräumte Zimmer sprach. In diesem Fall reichte eine leise Bestellung, um Cassys Aufmerksamkeit zu erwecken. Sie schmunzelte.
„Nun, dann also eine kleine Cola…“, wobei sie das Wort ‘klein’ unnatürlich betonte, „…ein Wasser und einen Kaffee mit Milch, bitte!“ Während sie das passende Geld aus ihrem Portemonnaie heraussuchte, fielen ihr alle Kreditkarten herunter. Doreen fluchte so leise, dass ihre Tochter es nicht hören konnte.
„Ich bringe Ihnen den Kaffee gern an den Tisch. Es dauert aber einen Augenblick. Ist noch nicht fertig!“, hörte sie die Verkäuferin sagen, bevor sie im Hinterzimmer verschwand.
Doreen richtete sich wieder auf. Alles wieder im Portemonnaie, dachte sie, ohne mitbekommen zu haben, dass sie eine davon verloren hatte. Unschlüssig wählte sie einen von den Stehtischen, an dem sie ungehindert ihre Tochter beobachten konnte. Cassy war mittlerweile so in eine Zeitschrift vertieft, dass sie nicht wahrnahm, dass ihre Mutter sie beobachtete.
In jeder einzelnen Pose dieses wunderschönen Kindes sah sie Raffaellas Züge. Selbst die komische Angewohnheit, die Haarsträhnen bei voller Konzentration in den Mund zu nehmen, entsprang ihrer leiblichen Mutter. Nur dass Ells Haar mittlerweile kurz und künstlich geglättet war.
Die Form und die etwas hellere Farbe verrieten, dass der biologische Vater von Cassy gravierend anders aussehen musste. Und das sah er auch. Als Ree ihre Frau kennenlernte, steckte sie in einer sehr unglücklichen Beziehung mit Tom. Ihr Ex-Ehemann war traditionell erzogen. Von ganzem Herzen wünschte er sich Kinder, die sie ihm über Jahre nicht schenken konnte. Die Ärzte diagnostizierten bei Doreen eine Unfähigkeit, Kinder zu bekommen. Es war also ihre Schuld, redete sie sich ein.
An jene verlorene Zeit, als Tom und sie jeden Morgen unglücklich nebeneinander aufwachten, dachte sie mit einer Note von Bitterkeit. Diesen Zustand hielten sie über Jahre hinweg aus.
Doch eines Tages beschlossen sie, ohne einander glücklich zu werden. Tom verliebte sich neu, heiratete, und Doreen stürzte sich in ihre Arbeit. Zu dieser Zeit ging es um eine brisante Geschichte mit einem Fall von Menschenhandel, der sie fast über Nacht von einer Berufsanfängerin zu einer gefragten Journalistin katapultierte. Die damaligen Opfer wurden zum Teil von einer smarten Psychologin betreut, Raffaella Bertani. Was als eine Zusammenarbeit anfing, endete einige Jahre später in einer gemeinsamen Hochzeitsfeier in der
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