Puppenspiel - Inspektor Rebus 12
erwarte. Nur wer mit den Verhältnissen in der Balfour Bank vertraut war, konnte sich denken, nach wem der Vater des ermordeten Mädchens Ausschau hielt.
John Rebus stand an der Kirchhofsmauer. Er trug seinen guten Anzug und einen langen grünen Regenmantel und hatte den Kragen hochgeschlagen. Immer wieder ließ er den B lick über die trostlose Landschaft ringsum schweifen: weithin kahle Hügel, auf den wie hingetupft Schafe weideten; eintönige gelbe Ginsterbüsche. In dem Aushang neben dem Friedhofstor hatte er gelesen, dass das Gebäude aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte, und dass die örtlichen Bauern die für den Bau nötigen Arbeits- und Geldleistungen erbracht hatten. Angeblich hatte der Denkmalschutz innerhalb der niedrigen Umfassungsmauer ein Templergrab entdeckt. Deshalb vermuteten die Experten, dass sich auf dem Gelände schon eine ältere Kapelle mit Friedhof befunden hatte.
»Der Grabstein, der früher das Rittergrab geschmückt hat«, so der Text in dem Aushang, »wird heute im Schottischen Nationalmuseum verwahrt.«
Rebus hatte an Jean gedacht, die an einem Ort wie diesem gewisse Dinge bemerkt hätte, die ihm gar nicht auffielen: beredte Zeugnisse der Vergangenheit. Doch dann war, mit ernstem Gesicht und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, Gill neben ihm aufgetaucht und hatte gefragt, was er hier zu suchen habe.
»Ich möchte dem Mädchen die letzte Ehre erweisen.«
Carswell drehte den Kopf ein wenig zur Seite und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.
»Oder ist das verboten?«, fragte er und ließ sie stehen.
Siobhan stand etwa fünfzig Meter von ihm entfernt, hatte ih m bisher jedoch nur einmal kurz mit der behandschuhten Hand zugewinkt. Sie blickte zu den Hügeln hinauf, als ob sie den Mörder dort jeden Augenblick zu sehen erwarte. Rebus teilte diese Hoffnung nicht. Dann war der Gottesdienst zu Ende. Der Sarg wurde ins Freie getragen, und die Kameras traten kurz in Aktion. Die Journalisten von der schreibenden Zunft verfolgten aufmerksam das Geschehen. Manche von ihnen versuchten sich die Details einfach einzuprägen, andere sprachen leise in ihre Handys. Rebus dachte zerstreut darüber nach, welchen Netzbetreiber die Leute benutzen mochten: Sein eigenes Gerät hatte hier keinen Empfang.
Dann wurden die Fernsehkameras, die den feierlichen Auszug der Sargträger aus der Kirche dokumentiert hatten, wieder ausgeschaltet. Auf beiden Seiten der Friedhofsmauer absolute Stille, die nur durch das Knirschen der Füße auf dem Kies und gelegentliches Schluchzen unterbrochen wurde.
John Balfour hatte den Arm um seine Frau gelegt. Ein paar von Flips Studentenfreunden hielten einander ebenfalls umschlungen und versuchten sich gegenseitig zu trösten. Rebus kannte einige der Gesichter: Tristram und Tina, Albert und Camille... Von Claire Benzie keine Spur. Er sah auch ein paar von Flips Nachbarn, darunter Professor Devlin, der sich bereits bei ihm erkundigt hatte, ob es im Zusammenhang mit den Särgen etwas Neues gab. Rebus hatte bloß den Kopf geschüttelt, und Devlin hatte gefragt, wie es ihm so gehe.
»Macht sich da eine gewisse Frustration bemerkbar?«, hatte der alte Mann gefragt.
»So ist es eben manchmal.«
Devlin hatte ihn skeptisch gemustert. »Für einen Pragmatiker hätte ich Sie nun wirklich nicht gehalten, Inspektor.«
»Mein Pessimismus hat mich noch immer getröstet«, hatte Rebus erwidert und war weggegangen.
Jetzt stand er da und beobachtete den Trauerzug. Ein paar Politiker hatten sich ebenfalls in die Prozession eingereiht, darunter die Abgeordnete Seona Grieve, die dem neuen schottischen Parlament angehörte. David Costello trat vor seinen Eltern aus der Kirche, sah blinzelnd in das Tageslicht, zog eine Sonnenbrille aus der Brusttasche und setzte sie auf.
Das Abbild des Täters im Auge des Opfers...
Jeder, der David Costello anschaute, sah in den Gläsern der Sonnenbrille nur das eigene Spiegelbild. Ob Costello genau das bezweckte? Hinter ihm schritten seine Eltern, die so distanziert miteinander umgingen, als ob sie entfernte Bekannte wären. Als die Menge sich etwas verlief, stand David plötzlich neben Professor Devlin, der dem jungen Mann zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte. Doch der sah geistesabwesend durch ihn hindurch, bis der alte Herr die Hand zurückzog und den Studenten am Arm tätschelte.
Doch dann geschah etwas. Ein Wagen fuhr vor, die Tür fiel ins Schloss, und ein leger gekleideter Mann in einem Pullover mit V-Ausschnitt und einer grauen
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