Puppenspiele
lag ein Hauch von Trost in Annas Argumenten. Im Moment griffen sie alle nach jedem Strohhalm: Karen wusste eine Menge über ihren Entführer. Nachdem sie begriffen hatte, dass ihr Verehrer Julien Offray und der gesuchte Serienmörder ein und dieselbe Person waren, hatte sie das Täterprofil aufmerksam studiert. Karen konnte mit ihrer bestechenden Intelligenz diese Informationen zu ihrem Vorteil nutzen. Sie würde zumindest Zeit schinden, indem sie zurückhaltend agierte und ihren Entführer nicht provozierte. Christian hoffte mit jeder Faser seines Herzens, dass Anna recht behielt.
Hamburg.
Karen erwachte mit dröhnendem Kopf und einem metallisch bitteren Geschmack im Mund. Sie saß auf einem unbequemen Holzstuhl, die Hände an die Rückenlehne, die Füße an die Stuhlbeine gefesselt. Benommen sah sie sich um. Soweit sie etwas erkennen konnte, war der kleine Raum ziemlich schäbig eingerichtet. Durch eine verdreckte Butzenscheibe drang etwas dämmeriges, rötliches Licht herein. Sonnenuntergang. Sie musste ein paar Stunden bewusstlos gewesen sein. Die leichte Übelkeit, die mit jedem Atemzug mehr abebbte, kam vermutlich von dem Betäubungsmittel, das er ihr gespritzt hatte. Karen bemerkte ein leichtes Schaukeln. Alles schwankte. Zuerst nahm sie an, dass auch das Schwanken eine Nachwirkung der Betäubung sei. Doch dann hörte sie das leise Geräusch von schwappendem Wasser. Sie war auf einem Schiff, das keine Fahrt machte, sondern irgendwo festgemacht lag. Aus der Ferne ertönte eine Schiffssirene. Karen vermutete, dass sie sich auf einem alten Hausboot befand, demnach nicht auf der Elbe, sondern eher auf der Bille oder im Holzhafen. Falls sie überhaupt noch in Hamburg war. Sie überprüfte vorsichtig die Festigkeit ihrer Fesseln. Es gab keine Chance, sie zu lösen. Plötzlich wurde Karen bewusst, in welcher Situation sie sich befand. Sie würde hier nicht mehr lebend herauskommen. Trotzdem verspürte sie keine Angst, sondern wurde von unermesslicher Wut und Verzweiflung gepackt.
Sie begann, wie wild an den Fesseln zu zerren. Dabei fluchte sie laut, beschimpfte sich selbst. Als sie bemerkte, wie ihre Handgelenke durch das Zerren aufgescheuert wurden und zu bluten begannen, gab sie auf. Unkontrollierte Gefühlsausbrüche brachten sie nicht weiter. Sie musste sich zusammennehmen und Zeit schinden. Volker und Christian würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu finden. Sie musste nur überleben, bis es so weit war. Einfach nur überleben.
Die Tür ging auf. Julien alias Niklas kam herein. Er trug seine Baseballmütze tief in die Stirn gezogen und trotz der relativen Dunkelheit in der Kajüte eine Sonnenbrille. Er schaltete eine Stehlampe ein. Nun konnte Karen ihre Umgebung besser sehen. Sie saß an einem Tisch mit einer braun-weiß karierten Resopalplatte, des Weiteren gab es noch einen Stuhl, eine Metallpritsche, auf der eine gammelige Matratze lag, eine kleine Kommode und eine Miniküchenzeile in dem Raum. Niklas ging zu einer Kochplatte und kochte Kaffee.
Karen fühlte sich langsam besser. Er hatte die Betäubung hervorragend dosiert. Ihr war kaum übel. Aber sie war immer noch wütend. Finster blickte sie ihn an: »Du hast meine Halbschwestern getötet.«
Er stellte die Kaffeekanne ab und goss zwei Tassen voll. »Sie hatten es verdient.«
»Wieso? Weil sie im Reagenzglas gezeugt wurden?«
Verblüfft sah er sie an: »Sag bloß, ihr seid immer noch nicht weiter?«
»Was meinst du?«
Er stellte die Tassen auf den Tisch. »Wenn du nicht zickst, löse ich eine Handfessel. Dann kannst du Kaffee trinken. Schwarz und ohne Zucker, wenn ich mich recht an Paris erinnere.«
»Ich zicke nie.«
Er band ihr die rechte Hand los und setzte sich gegenüber auf den Stuhl. Der Kaffee weckte Karens Lebensgeister vollends aus der abklingenden Betäubung.
»Wirst du mir das Herz herausschneiden?«, fragte Karen in beiläufigem Tonfall, ganz so wie man beim Kaffeekränzchen fragt, ob der andere einem den Teller mit den Plätzchen reichen mag.
»Das weiß ich noch nicht.«
»Warum machst du eigentlich so schlechte Nähte? Du bist doch ein ziemlich geschickter Chirurg!«
Niklas war kurz irritiert: »Das wisst ihr? Immerhin. Ihr seid besser als ich dachte. Nun ja. Nähte langweilen mich. Ich habe mich schon immer mehr für das Innenleben als für die Dekoration interessiert.«
»Dafür hast du die Leichen aber recht aufwendig dekoriert.«
»Freut mich, dass es dir gefällt.«
»Tut es ganz und gar nicht. Was
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