Puppenspiele
Kritiker?«
»Gibt es einen hilfreichen Titel für das Werk?«
Jochen zuckte bedauernd die Achseln. »Das vermute ich. Aber den kennen wir nicht. Nur zwei Adressaten: das Horrorkabinett von Madame Tussauds und die Freakshow vom Zirkus Krone. Wobei der Absender garantiert gewusst hat, dass beides nicht existiert.«
»Deswegen ist es eine Botschaft«, ergänzte Nico. Es erschreckte ihn gehörig, plötzlich mit den Augen eines Kulturliebhabers an einen Mord heranzugehen. Mord war schließlich das krasse Gegenteil – destruktiv in seinem ganzen Wesen, statt schöpferisch.
»Und was will die uns sagen?«, hakte Jochen ungeduldig nach. Nico war wirklich sehr langsam. Entschieden besser in der Oper aufgehoben als auf den Bühnen der wirklichen Welt.
Nico bestellte Bier nach. »Es gab mal einen Film … Uralt. Von Ted Browning. Der heißt ›Freaks‹ und spielt in einer entsprechenden Kuriositätenshow bei einer Art Zirkus. Diese Freakshows waren damals weitverbreitet.«
»Und worum geht’s da?«
»Ein Zwerg, heute würde man Kleinwüchsiger sagen, verliebt sich in eine normal große Trapezkünstlerin. Diese macht sich über ihn und seine Freak-Freunde lustig. Bis sie hört, dass der Zwerg reich ist. Da heiratet sie ihn und versucht ihn zu vergiften. Die Freaks aber bekommen das mit, retten ihren Kumpel und verstümmeln aus Rache die Trapezkünstlerin, die schließlich selbst Teil der Freakshow wird.«
»Willst du damit sagen, unser Mörder ist ein Zwerg? Oder eine ganze, gemeingefährliche Bande von Zwergen? Eine Art Mini-Mafia?« Jochen musste so lachen, dass sein Körperfett in Wellen um ihn herum wogte.
Nico war beleidigt: »Warum sagen bloß immer alle ›unser‹ Mörder? Das ist nicht meiner! Ich will mit dem Herrn nichts zu tun haben! Auch nicht, wenn er nur ein Meter zwanzig groß ist!«
Jochens Handy klingelte. Er musste hinausgehen, in der Bar hatte er kaum Empfang. Außerdem war es zu laut. Als er zurückkam, hatte Nico sein zweites Bier leer getrunken und schien nun etwas mittiger in sich selbst zu ruhen.
»Das war die Mutter des Berliner Opfers«, verkündete Jochen zufrieden.
»Was will die von dir?«
»Namen und Adresse der Mutter des Münchner Opfers. Wenn ich ihr das besorge, bekomme ich alle Infos von ihr exklusiv. Zu einem von ihr gewählten Zeitpunkt, aber immerhin.«
»Warum fragt sie nicht die Bullen nach der Münchnerin?«
»Sie hat ihre Gründe, sagt sie.«
»Mein Cousin ist beim Münchner Abendblatt.«
Jochen hielt ihm sein Handy hin. »Ruf ihn an und frag ihn!«
»Der ist Kulturredakteur. Kultur, verstehste?! Obwohl der Idiot Madonna nicht von der Mona Lisa unterscheiden kann.«
»Dann soll er seine Kollegen fragen! Los, ruf an!«
Nico sah vorwurfsvoll auf die Uhr, nahm aber das Handy. Das Telefonat währte nur kurz, denn sogar sein dämlicher Cousin hatte den Namen sofort parat. Ganz München wusste, wer die im April ermordete Mira W. gewesen war. Nämlich die Tochter von Sybille Weininger, einer künstlerisch gescheiterten Malerin, und nicht zuletzt die Enkelin der Großindustriellen Martha Weininger, die mit eisenharter und äußerst erfolgreicher Hand das Stahlbau-Familienunternehmen nach dem frühen Selbstmord ihres Mannes zu ihrem ganz privaten Wirtschaftswunder gelenkt hatte. Kurz darauf waren Namen und Adresse bei Petra Rahnberg.
Christian fand keine Nachtruhe. Er lag in seinem Hotelzimmer zwischen verstreuten Dokumenten auf dem Bett, stand auf, ging hin und her, sah aus dem Fenster in den von Wolken verhangenen Himmel, rauchte eine Zigarette, legte sich wieder hin. Wieder und wieder ging er die bisherigen Einzelheiten des Falls durch, wieder und wieder rief er Anna an. Ihr Handy war ausgeschaltet. Vermutlich saß sie in irgendeinem FBI-Seminar und ließ sich von Pete und anderen jungen »special agents« ausbilden. Christian versuchte, nicht daran zu denken. Er hasste jedes Aufkeimen von Eifersucht, fühlte sich dabei albern und dumm wie damals als pubertierender Schüler mit Pickelfresse.
Zum x-ten Mal nahm er sich die Zeugenaussagen vor und bedauerte das völlige Fehlen irgendeiner Auffälligkeit, von heißer Spur ganz zu schweigen. Zum x-ten Mal besah er sich die Opferprofile: Beide Frauen waren jung, hübsch, klug, Einzelkinder von alleinerziehenden Müttern aus besseren Kreisen. Doch darüber hinaus gab es keinerlei sichtbare Verbindung zwischen ihnen. Mira und Catrin hatten sich nicht gekannt, nicht einmal flüchtig, ebenso wenig ihre Familien. Dass das
Weitere Kostenlose Bücher