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Puppentod

Titel: Puppentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Winter
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Augenblick Michaels kleinstes Problem.

DRITTER TEIL

1
    Die Grübelei der letzten Tage hatte Michael zu keinem Ergebnis geführt. Es war, als wollte er ein Puzzle zusammenlegen, ohne die passenden Teile zu haben. Nichts fügte sich ineinander, nichts ließ sich miteinander verbinden, nichts gehörte zusammen. In welche Richtung seine Gedanken auch gingen, sie endeten immer bei derselben Frage: Wer war Lisa? Wer war die Frau, die sein Herz entflammt hatte und die er für immer lieben wollte? Das kleine Mädchen, das an seinem zehnten Geburtstag verschwand? Das nicht wieder aufgetaucht war und von dem nie eine Leiche gefunden wurde? Das die eigene Mutter für tot erklären lassen wollte? Je mehr er darüber nachdachte, umso stärker wurde das mulmige Gefühl in seinem Bauch.
    So kam er nicht weiter, das wusste er. Er musste mit Lisa reden und ihr von seinem Besuch auf dem Standesamt erzählen. Doch genau davor hatte er Angst. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es für alles eine Erklärung geben würde, geben musste. Eine innere Stimme aber flüsterte ihm etwas anderes zu. Vielleicht war alles nur Illusion gewesen? Hatte er durch seine rosarote Brille den Blick für die Realität verloren? War sein Glück nichts anderes als ein Traum? Ein Luftschloss, gebaut in seiner Fantasie. Pure Einbildung, die für ihn Wirklichkeit geworden war.
    Er dachte an die Menschen in der Wüste, die eine Oase sahen, obwohl diese gar nicht existierte. Eine Fata Morgana.

    War Lisa eine Fata Morgana? Er hatte einmal gelesen, dass diese Trugbilder nach der Fee Morgana benannt worden waren , jener schönen, mystischen Frau, die auf der von dichten Nebeln umgebenen Insel Avalon lebte. Laut der Sage gab sie sich in Luftspiegelungen zu erkennen, die als Vorboten dramatischer Ereignisse galten - als der Beginn von Katastrophen.
    Vielleicht hatte er deshalb so viel Angst - weil er glaubte, dass auch seine Liebe zu Lisa, und seine Träume von einem Leben mit ihr, in einer Katastrophe enden könnten; in den Nebeln versinken, so wie einst die Insel Avalon und die Fee Morgana.

    Gedankenverloren starrte Michael hinaus auf den See. Es war Sonntagmorgen, er saß zu Hause am Schreibtisch und wollte an seinem Roman weiterarbeiten. Nur gelang ihm das nicht, er brachte keinen einzigen Satz zustande. Deshalb hatte sich sein Laptop auch schon von selbst in den Ruhezustand versetzt.
    Er zog die Schreibtischschublade auf und nahm Lisas Geburtsurkunde heraus. Er glaubte nicht, dass sie das vermisste Mädchen war. Das konnte nicht sein. Sie war mehrfach in die Karibik geflogen, hatte dort ein Auto gemietet und als Tauchlehrerin gearbeitet. Somit musste sie nicht nur über einen gültigen Reisepass, sondern auch über einen Führerschein verfügen.
    Der Gedanke beruhigte ihn. Er bewegte die Maus, wartete, bis sich das Bild wiederhergestellt hatte, und versuchte, sich auf den Anfang eines neuen Kapitels zu
konzentrieren. Er schrieb einen Satz und löschte ihn wieder; schrieb einen neuen und fand ihn noch schlimmer. Es war einfach zwecklos.
    Seufzend beschloss Michael, den Computer herunterzufahren und sich aus der Küche einen Kaffee zu holen. Vorher aber legte er die Geburtsurkunde zurück in die Schublade. Er würde jetzt nicht mit Lisa darüber sprechen. Nicht heute. Etwas hielt ihn davon ab.
    Auf dem Weg nach unten begegnete er seinem Vater, der früh von seinem sonntäglichen Waldspaziergang zurückkam. Normalerweise hatte er den immer mit Yakko unternommen, und nun schien es ihm keine Freude zu machen, allein im Wald umherzulaufen. Das konnte Michael verstehen. Der Hund fehlte seinem Vater mehr, als er je zugeben würde.
    Bevor Rudolf die Jacke auszog, legte er einen Stein auf das Sideboard, an dem noch die feuchte Walderde klebte. Der war sicher für Yakkos Grab bestimmt, denn der Hund hatte die Angewohnheit gehabt, von jedem Sonntagsspaziergang einen Stein mitzubringen. Große und kleine Steine hatte er in seiner Schnauze nach Hause geschleppt, um sie unter der alten Trauerweide zu sammeln. Und wehe, jemand wagte es, einen Stein zu entfernen. Jeden Tag hatte der Hund den Steinhaufen kontrolliert und ein furchtbares Theater veranstaltet, wenn Hilde einige Steine mit der Schubkarre weggeschafft oder in den See geworfen hatte.
    »Willst du einen Kaffee mit mir trinken?«, fragte Michael seinen Vater.

    Rudolf lehnte ab. Etwas anderes hatte Michael auch nicht erwartet. Somit ging er allein zu seiner Mutter in die Küche, wo es köstlich nach gebrutzeltem

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