Purgatorio
Bild von Dante. Sie sah ein wenige Tage altes Baby, das mit einer Lampenkordel erdrosselt worden war. Die Nabelschnur noch nicht durchschnitten, und sein Gesicht von einem Ausdruck äußersten Schmerzes zerfurcht. Das Bild schwoll an, als überschreite es die Grenze zur Wirklichkeit. Es wuchs und wuchs, bis es sich in eine Tafel auflöste, die an die Typographie alter Kinowochenschauen erinnerte:
Neugeborenes von kriminellen Subversiven ermordet.
Sie sah die drei Personen der Dreifaltigkeit einander auffressen: Der Vater verschlang den Sohn, und das zweiköpfige Ungeheuer, das dort erstand, verschlang die Taube des Heiligen Geistes, und dann flog die Taube auf und hieb den anderen beiden mit ihrem Sensenschnabel den Kopf ab. Danach sah sie sich selbst, wie sie diese Szenen betrachtete, und als sie sie sah, ging ihr auf, dass sie sich nicht in ihr drin befanden, sondern dass irgendwo ein Apparat verborgen war, der sie projizierte, aber sie wusste nicht, wozu. Wer gab Geld aus, um solche Bilder zu komponieren? Sah sie sonst noch jemand?
Nach einer gewissen Zeit wiederholten sich die Bilder in immer derselben Reihenfolge, als hätte man sie auf einem Endlosband gespeichert. Im Morgengrauen – wenigstens vermutete sie, das Morgengrauen sei gekommen – verschwanden sie wie von der Flut angeschwemmtes Strandgut. Sie versuchte zu schlafen, doch die Stimmen in einem nahen Radio gaben immer wieder die Lottoresultate bekannt. »Zweitausendneunhundertaaachtundneunzig. Aaachthunderttausend Pesos«, gab der Sprecher bekannt. »Zweitausendneunhundertaaachtundneunzig. Aaachthunderttausend Pesos«, echoten die Dunkelheiten hinten im Gang. Die Wirklichkeit entfernte sich immer weiter, um den beiden einzigen Sinnen Platz zu machen, denen Emilia vertraute: dem Geruchs- und dem Tastsinn. Waren diese Sinne frei? Oder waren sie Gefangene einer fremden Wirklichkeit, die ebenfalls nach Belieben über die Vorstellung dahinwehte?
Sie erwachte, als man ihr eine Kanne frischen Mate und ein Stück Bauernbrot mit gebratenem Schweinefleisch in die Zelle stellte. Die Lottonummernleier ging unverändert weiter, aber die Bilder an der Wand hatten sich verflüchtigt. Sie dachte, wenn sie überleben wolle, müsse sie Anspannungen vermeiden und den Geist ausschalten, Abstand nehmen zu allem, was sich jenseits ihres Körpers ereignete. In die Lethargie eintauchen, so schwierig es auch sein mochte. Das würde ihr Kraft fürs Schlimmste geben, falls denn das Schlimmste eintreten sollte. Jedes Gefühl hätte sie vernichtet, und am Ende dachte sie, sie sei gerettet, da sie keines gehabt hatte.
Am dritten Tag hieß eine Wärterin sie aufstehen und sich kämmen.
Du kannst gehen, Kleine, sagte sie. Die Edelschicksen fallen hier immer wieder auf die Füße. Draußen warten deine Eltern auf dich.
Man verband ihr die Augen. Jemand fasste sie unter, führte sie über einen, wie ihr schien, feuchten Hof und ließ sie in einem Zimmer warten, das nach verschwitzten Kleidern stank. Bevor er die Tür schloss, befahl ihr der Mann, bis zwanzig zu zählen und dann die Binde abzunehmen. Nachdem sie sich an ein schwaches Licht gewöhnt hatte, das alle Gegenstände gleich aussehen ließ, erkannte sie die Umrisse eines zweiteiligen Sofas, einen Schreibtisch aus Holz und einige Stühle. An den Wänden hingen bunte Wappen, ein Foto des Aals und ein Bild von General San Martín. Ohne bestimmten Grund kam ihr wie eine Schmeißfliege der Vers in den Sinn, den sie am ersten Nationalfeiertag in der Grundschule gehört hatte:
die Schlachten, die Pakte, der obligatorische Held.
Die obligatorischen Helden vervielfachten sich im Land, so wie die Heiligen in der katholischen Kirche. Für jede Schlacht, die nicht geliefert wurde, schuf man einen neuen Helden, und für jedes Wunder, das es nicht gab, verehrte man einen Heiligen.
Die Schlachten, die Heiligen, der obligatorische Held.
Hinter ihr ging eine Tür auf, und eine plötzliche Lichtflut schwemmte die Vogelstimme ihrer Mutter herein.
Emilia, mein liebes Kind! In was für einen schrecklichen Schlamassel hat dich Simón da mit hineingezogen.
Misstrauisch ließ sie sich umarmen. Die Wärme ihrer Mutter hatte sie immer gestärkt, aber dass sie ihren Mann anklagte, verwirrte sie.
Damit hat Simón nichts zu tun. Er war genau so ein Opfer dieses Irrtums wie ich. Wo ist er? Ich will ihn sehen.
So kannst du das nicht, sagte die Mutter. Du siehst scheußlich aus. Geh dich waschen. Wir haben dir frische Kleider mitgebracht.
Die
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