Purgatorio
Generale gierten. Es verschwanden Arbeiter beim Verlassen der Fabrik, Landarbeiter vom fahrenden Traktor, Tote, die am Vortag beerdigt worden waren und sich aus den Gräbern heraus in Luft auflösten. Es verschwanden Kinder aus dem Bauch ihrer Mütter, und es verschwanden Mütter aus der Erinnerung ihrer Kinder. Menschen, die um Mitternacht krank in der Klinik ankamen, waren am nächsten Morgen nicht mehr da. Mehr als einmal stürzten Mütter zum Eingang eines Supermarkts und suchten verzweifelt ihr Kind, das in den Gängen zwischen den Regalen wie in einem schwarzen Loch verschwunden war. Einige wenige tauchten Jahre später wieder auf, aber sie waren nicht mehr dieselben. Sie hatten einen anderen Namen, andere Eltern und eine Geschichte, die nicht mehr ihre war. Und nicht nur Menschen verschwanden: Flüsse, Seen, Bahnhöfe, halb erbaute Städte lösten sich in Luft auf, als hätte es sie nie gegeben. Die Plünderung dessen, was nicht mehr war, und dessen, was hätte gewesen sein können, war grenzenlos.
In einem Interview mit japanischen Korrespondenten musste der Aal eine Antwort zur Epidemie des Verschwindens geben. »Zunächst müsste man herausfinden, ob das, wovon Sie sagen, es hätte es gegeben, dort war, wo Sie sagen, es sei gewesen. Die Wirklichkeit kann sehr trügerisch sein. Vielen Leuten ist jedes Mittel recht, um aufzufallen, und sie verschwinden einzig und allein, damit man sie nicht vergisst.« Emilia sah ihn im Fernsehen die Silben hervorheben, während er mit seinem glänzenden Schädel nickte:
Ein Verschwundener ist eine Unbekannte, hat kein Wesen, er ist weder lebend noch tot, er ist nicht. Er ist ein Verschwundener.
Und als er sagte
Er ist nicht,
sah er zum Himmel empor.
Das Wort
verschwinden
soll nicht mehr gebraucht werden. Es hat kein Fundament. Es ist verboten, es zu publizieren. Es soll verschwinden und in Vergessenheit geraten.
Emilia ließ Simón am Eingang zu Trudy Tuesday stehen und lief, ohne ihn aus den Augen zu lassen, zum Hammond-Atlas-Gebäude, um ihren silbernen Altima zu holen. Sie hatte keine Angst mehr, er könnte wieder davongehen, nach so vielen Jahren wäre das auch sinnlos gewesen. Leise hatte sie gesagt: Ich hol das Auto. Wir fahren nach Hause. Und eine Antwort war gar nicht nötig gewesen. Auf der gegenüberliegenden Seite der 22 . Straße wandte sie sich um, ob er noch da wäre, wo ihre Sinne ihn zurückgelassen hatten. Und er war nicht mehr da. Sie sah ihn nordwärts gehen, einen Lichtfleck, einen von der Zwei-Uhr-nachmittags-Sonne geschaffenen Dunst.
Simón!, rief sie, doch er hörte sie nicht. Vielleicht verwirrte ihn der unablässige Lastwagenverkehr Richtung Newark. Ein Taxi blieb an der Ecke stehen, und ohne zu zögern, stieg Emilia ein und hieß den Fahrer unverzüglich ihrem Mann folgen. In weniger als zweihundert Meter Entfernung überquerte er eben eine Brücke, so dass sie sogleich bei ihm waren. Als sie ihm die Tür öffnete, stieg er selbstverständlich lächelnd ein. Noch immer verängstigt und mit bis zum Hals schlagendem Herzen stotterte sie dem Fahrer die Adresse von Highland Park zu mit den Hinweisen zum kürzesten Weg. Die Energie, die ihr Mann noch Minuten zuvor im Gespräch mit den Skandinaviern an den Tag gelegt hatte, schien vollständig ausgeflossen. Er war ein sanftes Kind, das Emilia verstohlen ansah und sich auf dem Rücksitz klein machte, um sie nicht zu belästigen. Er hatte das Köfferchen bei sich, das sie ihm vor einunddreißig Jahren geschenkt hatte: breit, weiches braunes Leder, ideal für kurze Reisen, dasselbe, das ihm laut dem Inventar der Wache im Polizeipräsidium von Tucumán zurückgegeben worden war. Damals hatte Simón drei Originalkarten auf dünnem weißen Karton mit bereits aufgedruckten Buchstaben und mehrere transparente Polyesterfolien dabeigehabt, um die kartographischen Symbole einzutragen. Emilia hätte ihn gern gefragt, ob auch diese Vergangenheit noch im Köfferchen sei, reglos, Gefangene einer Zeit, die sich nicht zurückziehen wollte. Aber sie hatte nicht den Mut dazu. Seit Ewigkeiten benutzten die Kartographen keine Polyesterfolien mehr. Jetzt waren die Karten Computerprogramme, Metaphern, die in der Wirklichkeit nicht mehr vorkamen.
Ich werde dich nicht allein lassen, mein Schatz, sagte sie. Ich werde erst am Montag wieder arbeiten. Es war Freitag.
Simón starrte in die seelenlose Monotonie des Vororts: die Taco Bells und die Dunkin’ Donuts, aus denen dicke, gesättigte Familien herauskamen, die
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