Purgatorio
Funkgerät ein und informierte den Posten, dass er einen Umweg machen würde. Trostlos standen die Zuckerfelder da, und der Horizont war manchmal purpurn, manchmal von intensivem, bedrohlichem Gelb. Sie fuhren über einen Weg voller Schlaglöcher, in denen das Auto immer wieder stecken blieb. Emilia war es mittlerweile egal, wohin sie gebracht wurde und wann man ankäme. Nur Simón beunruhigte sie. In immer längeren Abständen fragte sie den Wachsoldaten nach ihm. Wortlos starrte der Mann in die Staubwirbel. Emilia dachte, vielleicht sei es sinnlos, Widerstand zu leisten, wenn niemand mehr Widerstand leisten wollte. Die Militärs waren die Aristokratie des argentinischen Geistes, und abermals verließ diese Aristokratie die Kasernen, um das Land zu retten. Wie oft hatte sie das von ihrem Vater gehört, der die Rede von Ayacucho mit demselben archaischen Pomp des Nationaldichters wiederholte, der sie geschrieben hatte. Diese Rede von 1924 lernten die Kinder in der Schule auswendig. Sie war damit gebrandmarkt worden, so dass sie ihr immer noch im Kopf umhergeisterte.
Als es Abend wurde, hielt eine Bahnschranke sie auf. Der Zug näherte sich mit langsamen, ungelenken Bewegungen. Auf den Wagen, flach wie Flöße, transportierte er mit kommerzieller Gleichgültigkeit Leichen. Bis auf die drei Wagen direkt hinter der Lokomotive lagen sie unter freiem Himmel da, gleichgültig gegenüber der Obszönität des Todes. Die vorderen waren mit schwarzen, vom Wind geblähten Plastikplanen zugedeckt, so dass Hände, Köpfe, Beine zu sehen waren. Die Asche des Futtermaises wirbelte über dem Zug und hinterließ eine dunkle Spur – einen Schwarm sterbender Schmetterlinge.
Es war beinahe Nacht, als der erste Ford Falcon in den Vororten von Tucumán ankam. Die großen Boulevards waren beleuchtet und die Vorderseiten der Häuser sauber, wie frisch gestrichen. In der eisigen Luft zog sich die Stadt zusammen. Die Autos bewegten sich langsam, und die Menschen gingen mit gesenktem Kopf und dicht an den Wänden dahin. Die Stille schien so gewollt, dass sie künstlich wirkte. Über der Straße, die den Norden vom Süden trennte, erhob sich ein Schild mit dem Bild dreier struppiger, bedrohlich aussehender Kerle. Darunter stand:
Lassen wir nicht zu, dass die Extremisten das Land zugrunde richten. Helfen Sie uns, es von ihnen zu säubern.
Beim folgenden Häuserblock zeigte ein weiteres Schild einen fleißigen Besen mit blau-weißer Legende:
Ordnung und Sauberkeit. Tod der Subversion.
Emilia erinnerte sich daran, dass dieses Sätzchen einer der Beiträge ihres Vaters zur Regierungspropaganda war.
Ordnung und Sauberkeit.
Wie viele mochte es sonst noch geben, von denen sie nichts wusste?
Gott, Vaterland und Familie
, diesen sicher, doch mittlerweile war er Allgemeingut.
Sie wurde aufs Polizeipräsidium gebracht, wo man ihr die Fingerabdrücke abnahm und sie ein Papier unterschreiben hieß, in dem sie zugab, dass Simón den Jeep gemietet hatte. »Auf Anweisung des Argentinischen Automobilklubs«, fügte sie unten hinzu. Flankiert von zwei Wachen, wurde sie in ein langes Kellergewölbe hinabgeführt. Beidseits lagen Zellen, aus denen nicht das geringste Geräusch drang. Emilia wurde in die letzte gesperrt. Nachdem man sie allein gelassen hatte, kam ihr die Vorstellung der Zeit abhanden. Sie brauchte lange, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann erkannte sie eine am Boden festgeschraubte Pritsche und einen Eimer, der nach geologischen Urinschichten stank. Die Wand vor ihr stieg endlos in die Höhe, nicht weniger als acht Meter, und bildete einen spitzen Winkel mit der rückwärtigen Wand, was der Zelle das Aussehen einer Pyramide gab. Irgendwann schoben die Wachen zwischen den Gitterstäben einen Krug Wasser herein, den sie hinunterstürzte, ohne zu atmen. Ihr Hals war ausgetrocknet, voller Sand und Entsetzen.
Sie war drauf und dran einzuschlafen, als ein geisterhaftes Licht sie wieder munter machte. Ein unsichtbarer Apparat projizierte Bilder zuoberst an die Wand, die einem Traum zu entstammen schienen und kamen und wie Sternschnuppen wieder erloschen. Sie dachte, es handle sich um eine Halluzination, und erinnerte sich an einen Vers von Dante, den sie in der Schule gelesen hatte:
Poi piovve dentro all’alta fantasia.
Das stimmte: In ihrer Vorstellung regnete es, doch das Wasser fiel so schnell, dass ihr die Formen entwischten, kaum erschienen sie. Sie sah Simón kopfüber in ein Feuer stürzen, aber auch das war ein mittelalterliches
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