Purgatorio
Kinkos, Pathmarks, die Toys »R« Us und die anderen grenzen- und maßlosen Konsumtempel. Emilia sprudelte nur so vor sich hin. Seit ich in dieses Land gekommen bin, beeindrucken mich die vor Gesundheit strotzenden Tomaten, der alterslose Kopfsalat, die wie Sirenen lockenden Früchte im Eingang der Gemüsehandlungen. Jetzt verstehe ich Disneys Schneewittchen, das vom Apfel der Stiefmutter vergiftet niederfällt. Ein geschmackloser Apfel, der einen in den ewigen Schlaf führt. Ist es dir auch so ergangen, Simón? Nichts von dem, was man hier isst, hat Geschmack. Was auf den Märkten verkauft wird, ist eine Illusion der Genetik, der Nährboden aller künftigen Krankheiten. Immer wieder drehte sich der Taxifahrer zu ihr um und fragte: Alles okay, Ma’am? Haben Sie etwas gesagt? Nein, nein, alles war okay.
Lange Zeit sprach ihr Mann kein einziges Wort, den Blick auf die Traurigkeiten der Straße geheftet. Ich muss behutsam sein, sagte sich Emilia immer wieder. Ich bin ungeduldig, weil ich die verlorene Zeit nachholen möchte, er aber vielleicht nicht. Ich darf ihn nicht bedrängen oder zu heftig sein. Wir werden schon wieder sein, was wir waren, ganz sachte. Und auch wenn wir es nie schaffen, was soll’s. Wenigstens sind wir wieder zusammen. Einen Tag, zwei Tage, den Rest des Lebens. Sie würden es wissen, kaum unterhielten sie sich und erzählten sich die Geschichten, die sie nicht hatten teilen können. Es war so viel, so viel! Es gibt nichts, dessen ich mich zu schämen hätte, sagte sie sich. Ich habe nie daran gezweifelt, dass er noch am Leben ist, nicht einmal, als die drei Zeugen in der Verhandlung gegen die Kommandanten schworen, sie hätten ihn tot gesehen, wie ein Stück Abfall in irgendeinen Hinterhof geschmissen. Ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben, bin ihm nie untreu gewesen. In all diesen schrecklichen Jahren wusste ich, er würde wiederkommen, habe ich ihn gesucht, auf ihn gewartet, ihn erahnt. Ich könnte sogar sagen, ich hätte ihn verdient, wenn das nicht eine Geringschätzung des Mannes wäre, den ich liebe – mein Simón ist keine Trophäe.
Die Sonne erlischt rasch, und jeden Augenblick werden sie von Dunkelheit eingehüllt sein. Emilia verlässt Hammond immer, wenn es schon stockdunkel ist, und noch selten hat sie Gelegenheit gehabt, die Dämmerung zu sehen, das rotgelbe Erlöschen der Herbstbäume, das flüchtige Profil der immer gleichen Gebäude an der Straße. In wenigen Minuten wird alles verschwinden, das Abendlicht, der Herbst, das fallende Laub; alles außer Simón, da, neben ihr.
Immer, selbst an unheilvollen Abenden – wenn es regnet oder schneit und unentwegt die Krankenwagen heulen –, begegnet sie beim Ausgang von Hammond evangelischen Predigern, die eine missklingende Litanei anstimmen,
Oh Lord, oh Lord,
während sie vor den Passanten die Spendendose schütteln. Der unheilvolle Refrain verfolgt sie weiter, kaum legt sie den Kopf aufs Kissen – die Klänge und Geräusche des Tages kommen immer nachts zu ihr zurück, als hätten sie sich zurückgezogen, um sich genau in diesem Moment in ihrem unbeschwerten Kopf auszubreiten, eines nach dem anderen: die Geräusche dieses und auch anderer, fernerer Tage. Gern hätte sie sich dieser unnützen Erinnerungen entledigt, aber es ist ihr nichts anderes übriggeblieben, als sie überallhin mitzunehmen. Früher hat sie sie nicht gespürt. Die Zeit hat sie allmählich zurückgebracht. Je mehr Jahre vergangen sind, desto weiter haben die Erinnerungen zurückgeführt. Jetzt, neben Simón, hat sie nichts mehr zu befürchten.
Was für ein vollkommener Tag, sagt sie, ohne Hoffnung auf eine Antwort.
Und tatsächlich antwortet er auch nicht. Noch vor kaum fünfzehn Stunden ist sie in ihrer Wohnung in der North Fourth Avenue gewesen und hat mit Nancy Frears im Fernsehen eine alte romantische Komödie gesehen,
The Ghost and Mrs Muir,
in der Gene Tierney, frisch verwitwet und mit einer Tochter, in ein verhextes Haus am Meeresufer zieht und sich in das Gespenst verliebt, das es bewohnt. Gegen elf verabschiedete sich Nancy, und für fünfzehn, zwanzig Minuten las sie noch einige Gedichte von Gonzalo Rojas, die sie verletzen mit ihrer wilden Erotik.
Brüllend Weib pinkelt schöne Liebe/und tritt in Gott ein, vertiert/und ölt das Hirn ihres Mannes, stürmisch auf ihn.
Die Verse haben sie erregt, sie hat noch genug Leben, um Lust zu bekommen, zu masturbieren, sich selbst zu gehören, da sie niemandem sonst hat gehören wollen.
Keinen
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