Purgatorio
Häuser, die auf den Park hinausgehen, wurden überschwemmt. Ganze Bibliotheken, Fotostudios und Karten mit dem Verlauf des
Eruv
, der für die gläubigen Einwohner des Ortes so wichtig ist, wurden vernichtet. Am nächsten Morgen traten die Menschen auf die Straße hinaus, um sich die Verwüstung anzusehen. Strahlend stand die Sonne am Himmel, und selbst die von der Katastrophe Heimgesuchten empfanden den Spaziergang als herbstliches Vergnügen. Letztlich konnte man ohnehin nichts mehr tun, außer ein Inventar der Schäden erstellen, fast sämtliche irreparabel. Eine Woche später war Highland Park wieder bei seiner alten Routine. Der Raritan zog sich in seinen armbrusthaften Lauf um den Ort zurück. Die geographische Fakultät der Universität ergänzte den Stadtplan im Büro der Bürgermeisterin um die beiden neuen Lehminselchen, die beim Abfließen des Wassers auftauchten. Gleichgültig widerstand die Zone den Angriffen des Wetters. Sehr wenig hatte sich verändert. Das Gebiet von Highland Park behielt die sechzig Häuserblocks von vor dem Sturm, und die beherbergten den Park, achtzehn Kirchen und rund fünfzehntausend Seelen.
Damals war meine beste Freundin Ziva Galili, Leiterin der historischen Fakultät der Rutgers University und in der Geschichte der russischen Revolution von 1917 , wo es ja nicht eben an Fachleuten mangelt, eine der beeindruckendsten Gelehrten, die ich kenne. Wenigstens drei Monate jährlich verbringt Ziva damit, die Überraschungen durchzukämmen, die in den Archiven des erloschenen KGB noch immer zu finden sind. Wenn ich zu ihr gehe, höre ich sie ohne den geringsten Akzent in mehreren Sprachen sprechen, eingeschlossen Hebräisch, die Sprache ihrer Eltern und des Kibbuz, in dem sie aufwuchs. Sie ist immer noch meine beste Freundin, aber mittlerweile sehen wir uns nur noch selten, da sie 2006 zur stellvertretenden Dekanin der School of Arts and Sciences ernannt wurde und fast den ganzen Tag auswärts verbringt. Ein Viertel der Einwohner des Orts sind afrikanische Einwanderer, die vorsorglich vor den Gemetzeln in Ruanda und Sierra Leone geflohen waren. Ein weiteres Viertel stellen die hier wohnenden Dozenten, zu denen ich mich zähle und die aus absehbaren und unabsehbaren Ländern stammen: Tschechen, Chinesen, Inder, Birmanen, Russen, Bulgaren, Belgier, Israelis, Mexikaner, Brasilianer, Argentinier. Und so weiter und so fort. Die Hälfte der Bevölkerung, die absolute Mehrheit, besteht aus strenggläubigen, zum Teil extrem orthodoxen Juden. Das erklärt, warum überall in Sichtweite eine Synagoge steht und warum eine der angesehensten Rabbinerschulen von New Jersey ihren Sitz in der Umgebung des Ortes hat, in der Woodbridge Avenue, weniger als zweihundert Meter von der Brücke über die Route 1 entfernt. Im Winter wie im Sommer sieht man freitags beim Dunkelwerden und samstags vom Morgen an die jungen Studenten in langen schwarzen Mänteln, unter denen der weiße Stoff des
Tallit
hervorlugt, durch die Woodbridge Avenue defilieren. Im Ort selbst herrscht bei den Synagogen allenthalben ein Kommen und Gehen von – Hunderten – jungen Müttern in ihren Galakleidern und mit Hüten britischen Schnitts und offenkundigen Perücken. Mit Elan schieben sie Wägelchen vor sich her, in denen sich zwei oder drei ihrer Kinder progressiven Alters befinden (sie selbst sind im Allgemeinen mit dem nächsten schwanger) und kommentieren mit heiterem Pathos die Mahlzeiten, die sie vor dem Sabbat zubereitet haben. Ihre Männer begleiten die Familie nur selten – sie widmen den Feiertag dem Gebet und dem Studium der Gebote Gottes. Sie sind sehr fromm und friedlich und haben ihr Glück in einem Örtchen gefunden, in dem sich nichts ereignet. Die Polizisten langweilen sich. Ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, die wenigen Autofahrer zu verfolgen, die das 25 -Meilen-Limit (nahe den Schulen 15 ) zu überschreiten wagen oder vergessen haben, sich anzuschnallen. Am Ende der Gottesdienste werden Freundschaften geknüpft und bei Mittagessen mit Gemeinschaftsgebet gefestigt. Katholiken, Protestanten, Juden – die Einwohner von Highland Park sind Gläubige, für die der Glaube Lebensmittelpunkt ist. Da ich mich dafür entschieden hatte, nicht mit Gott zu leben, kenne ich niemanden, und niemand sucht mich. So ist es nur natürlich, dass ich erst nach längerem von Emilia Dupuy erfuhr, die man sowohl in Chris Nolans Friseursalon wie in Vijay Maktals Apotheke als Millie kannte, was für die angelsächsische Diktion
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