Purgatorio
leichter auszusprechen ist als Emilia mit ihren tödlichen Vokalen.
Anfänglich begegnete ich ihr gegen Abend im Stop & Shop, als der Supermarkt noch Food Town hieß. Bevor wir herausfanden, dass wir beide Argentinier sind, und uns misstrauisch und höflich zu grüßen begannen, stellte ich mich tunlichst nicht vor derselben Kasse an wie Emilia, denn wie die meisten älteren Frauen des Ortes nahm sie sich nicht nur alle Zeit der Welt, die Reife der Tomaten zu ertasten und die Pfirsiche zu beriechen, sondern überhäufte die Kassiererin zudem mit Rabattmarken. Sie legte sie eine nach der anderen hin, im selben Rhythmus, wie die Kassiererin den Broccoli und das Diäteis einpackte, das mit einem Rabatt von zwei Dollar auf den angegebenen Preis angeboten wurde. Im Allgemeinen wollte sie hundert Unzen Eis mit einer einzigen Marke mitnehmen, und da das nicht zulässig war, verwickelte sie sich mit der Kassiererin in ein Wortgefecht, das sich erst mäßigte, wenn die Aufseherin herbeieilte, um Ordnung zu schaffen. Mittlerweile hatte sich die ganze Schlange auf andere, weniger betriebsame Kassen aufgeteilt. Wenn ich mit Emilia im Supermarkt zusammentraf, verließ ich ihn, auch wenn ich später gekommen war, immer schon vor ihr wieder, um derartige Situationen zu vermeiden. Ihre damals über fünfzig Jahre sah man ihr nicht an. Jedermann hätte sie für zehn Jahre jünger gehalten. Sie war eher großgewachsen, schlank, elastisch, mit diesem für viele Argentinierinnen typischen Aussehen eines Teenagers, der vorsätzlich zu wachsen aufgehört hat. Sie war tief gebräunt von der Strahlkraft der Solarien (im Ort gibt es etwa sieben einschlägige Unternehmen) und versuchte unter einem fragilen Lackgerüst die Schütterheit ihrer Haare zu verbergen. Am meisten fielen mir ihre leuchtenden, fast durchsichtig blauen Augen auf, die mit unermüdlicher Neugier das gemächliche Atmen einer Welt betrachteten, die sich in Highland Park träge wie eine Schildkröte bewegte. Sie hatte kleine Brüste und ein wohlgeformtes Gesäß, das ihre Beine verlängerte. Sie war attraktiv und wusste es.
Ich lernte sie kennen, weil ich mich für die Welt der Kartographen interessierte, die in ihrem Bestreben, die Wirklichkeit zu korrigieren, derjenigen der Romanciers so sehr gleicht. Meinen Lernprozess in Bezug auf Labyrinthe und alte Seekarten begann ich an der geographischen Fakultät von Rutgers, aber da dort keine historischen und komparativen Karten erstellt wurden – die ersten, die meine Neugier geweckt hatten –, gelangte ich zur Hammond Corporation, als sich ihre Büros noch in der Progress Street in Union befanden, bevor sie nach Springfield umzog. An diesem Mittag sah ich Emilia Dupuy in einem der Räumchen der Programmierer und erfuhr, dass sie in meinem Ort wohnte, eine halbe Meile von mir entfernt.
Die Arbeitsatmosphäre verwandelte sie. Die Frau, die mir bei Hammond vorgestellt wurde, glich fast in nichts der mühsamen Fünfzigerin von Stop & Shop. Eher war sie das Gegenteil: anmutig, hilfsbereit, sanft. Sie trug einen Faltenrock, dank dem sie ohne Angeberei ihre wundervollen Beine zeigen konnte, und die Haare zu einem einfachen Kranz hochgesteckt, der ihren eleganten Nacken betonte. Später, als ich sie besser kannte, wagte ich ihr zu sagen, ich hätte sie nie so schön gesehen wie an jenem Tag und sie solle sich doch immer so schlicht anziehen, aber meine Bemerkung brachte sie auf. Die Kartographin, die du in der Union kennengelernt hast, war nicht ich, sagte sie. Ich war seit einer Woche nicht mehr beim Friseur gewesen. Ich widersprach ihr nicht, obwohl ich immer gedacht habe, dass sich in den Schönheitssalons der Main Street von Highland Park – drei pro Häuserblock – Frauen wie Emilia die Schönheit rauben lassen, mit der die Natur sie ausgestattet hat. Mehrere von ihnen habe ich diese Lokale mit hochgetürmten Haaren, unter dem Gewicht der Tusche geknickten Wimpern und überdesignten Nägeln verlassen sehen, was ihnen zusammen mit den weiten, grellbunten Kleidern in den Filmen von Federico Fellini eine Rolle als Statistin verschafft hätte, hätte Fellini sie gekannt.
An einem Samstagnachmittag lud mich Emilia in ihre Wohnung in der North Fourth Avenue zum Tee ein. Ohne zu zögern, nahm ich an, mit dem vorgeheuchelten Interesse, die Kunststofffolien zu studieren, auf denen in den siebziger Jahren Gravuren erstellt wurden, und damit sie mir vom Scribing-System erzählte, das damals für die Verfertigung der Karten im
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