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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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einzigen Tag habe ich aufgehört, dich zu lieben, Emilia, sagt Simón. Der Straßenlärm übertönt seine dünne Stimme. Auch ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, Simón, mein Schatz. Keinen einzigen Tag. Die Gedanken überstürzen sich. Sie müsste so viele Dinge vorausschicken, ehe sie nach Hause kommen – aber wäre es nicht besser, sich zu beruhigen, zu warten, zu wissen, wie sie sich miteinander fühlen? Sie haben sich gesagt, dass sie sich immer noch lieben. Das ist wenig und bedeutet dennoch alles. Sie fürchtet, Simón werde enttäuscht sein, wenn er sie sähe, wie sie ist, das zerknitterte Stück Papier, zu dem das Unglück sie gemacht hat.
    Während das Taxi die Route 22 verlässt und auf die noch ödere Fläche der 287 wechselt, die von friedhofsgroßen Hotels gesäumt ist (wer außer Geistern käme auf die Idee, inmitten von so viel Nichts abzusteigen?), noch zehn oder zwölf Meilen von zu Hause entfernt, merkt sie, dass sie schlecht riecht, schmutzig ist, schweißverklebte Haare hat. Morgens vor dem Weggehen hat sie gebadet, abends zuvor die Achselhöhlen enthaart, und doch haben sich Geruchsquellen aufgetan, die nur eine zweite Dusche zum Versiegen bringen kann. Wird sie damit Zeit vergeuden wollen, wird sie ihren Mann auffordern, mit ihr zu baden? Ausgeschlossen. Sie schaut ihn von der Seite an, so sanft, so schweigsam, und sogleich verflüchtigt sich ihre Scham. Sie wird ihn fragen, was er am liebsten tun möchte, in der Hoffnung, er werde sie noch diesen Abend ins Bett einladen. Sie wird sich ihm hingeben, ihm überallhin folgen, so, wie er ihr in diese Abgeschiedenheit von New Jersey gefolgt ist, ohne zu fragen. Er scheint von nichts überrascht zu sein, nicht einmal, als sie ihm die Schatten des Johnson-Parks zeigt, wo sie samstags und sonntags joggen geht. Zwei Häuserblocks von zu Hause entfernt spricht Simón endlich mit ihr:
All yet seems well; and if it end so meet,/The bitter past, more welcome is the sweet.
»Gut scheint jetzt alles«, übersetzt Emilia. »Mög es glücklich enden/Und bittres Leid in süße Lust sich wenden.« Shakespeare, nicht? Dein Englisch ist sehr gut. Wie hast du es gelernt? Beim Fernsehen, antwortet er. Sechs Stunden täglich. Und sie: Ich habe meines auch mit Hörbüchern verbessert. Die Einsamkeit gibt einem Zeit für alles.
    Emilias Wohnung ist düster: ein Balkönchen auf die Straße hinaus, ein Wohnzimmer, ein Bad, die Küche, das Schlafzimmer. Der Esstisch ist mit Karten übersät. In der Küche stehen schmutzige Teller herum, und seit dem Morgen gären Abfallgerüche. Sie hat allem seinen Lauf gelassen und den Eigentümer nicht angerufen, um die Feuchtigkeitsflecken beseitigen zu lassen, die die Tapeten aufreißen. Sie schaut ihren Mann an, der hinter ihr die Treppe heraufkommt, und reicht ihm die Hand: Bist du es, Simón? Bist du es wirklich? Sie klammert sich an eine leichte, schmale Hand, so sanft, wie sie sie in Erinnerung hat. Das Verlangen reißt sie fort, als sie die letzte Stufe nehmen, das stürmische Verlangen, das sich in ihrem Bauch angesammelt hat, seit sie ihn zu vermissen begann, sie will seinen Körper spüren, will ihn umarmen, so viel aufgesparte Leidenschaft erträgt sie nicht länger. Als könnte er ihre Gedanken lesen, kommt ihr Simóns Stimme zu Hilfe: Keinen einzigen Tag habe ich aufgehört, dich zu lieben, sagt er. Ich auch nicht, antwortet Emilia. Keinen einzigen Tag. Und sie wiederholt es mit ihrem ganzen Wesen, damit sogar die abgenutzten Wände sie hören können: keinen einzigen Tag, mein Schatz.

2
    Ein holdes Weib,
die einsam vor sich hinging
Purgatorio
, 28 . Gesang, Vers 40
    S eit 1991 wohne ich wie Emilia in Highland Park, auf der trostlosesten Seite des Hügels, der den Flusslauf des Raritan überwacht. Mitte des 18 . Jahrhunderts war der Raritan eine wichtige Wasserstraße, jetzt dagegen ist er nur noch ein spindeldürrer Faden, in dem Tausende kanadische Gänse nisten, deren Gekreisch die Stille der Kleinstadt zersplittert. Im September 1999 verschwanden sie schlagartig und ohne ersichtlichen Grund. Der Himmel war dunkel und die Natur stumm. Niemand war vorbereitet auf das, was geschah. In der Nacht kräuselten die Winde des Hurrikans Floyd den Raritan, der in wenigen Stunden anschwoll, wilde Bäche schuf und den Donaldson-Park, hundert Meter von meinem Haus entfernt, völlig überflutete. Die Gänsenester – schwere Ballen aus wildwachsendem Stroh – wurden von der Strömung fortgerissen. Die Keller aller

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