Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
Vom Netzwerk:
sollte. In Buenos Aires hätte ich sie umarmt, aber wir befanden uns ja in New Jersey, allein in ihrer Wohnung, und ich hatte keine Ahnung, wie sie das auffassen würde. Sie trocknete sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen, ging einen Moment in ihr Zimmer und kam dann ganz ruhig zurück. Entschuldige, sagte sie. Ich bin eine Idiotin. Ich vermisse ihn einfach so sehr, darum. Ich vermisse ihn jeden Tag mehr. Sie ging davon aus, dass ich wusste, wovon sie sprach, erklärte es aber trotzdem. Ich vermisse Simón, sagte sie. Jetzt, da ich mutter- und vaterlos bin, beruhigt es mich, nicht auch noch simónlos zu sein.
    Nach unserem Treffen im Toscana hatte ich gedacht, die Suche nach dem verlorenen Ehemann sei längst Geschichte. Als Emilia nach Highland Park kam, war sie es müde, eine falsche Spur nach der anderen zu verfolgen im Glauben, er erwarte sie in einer Landkarte verborgen. Sie hatte über ihren Einfall gelacht, sagte, das sei Unsinn, eine Art Spiel mit sich selbst, ein Trost von der Art, wie er zusammen mit den Winterhandschuhen aufbewahrt und vergessen wird, aber jetzt wurde mir klar, dass sie es ernst meinte, dass sie immer noch auf Simón wartete. Ich schlafe kaum, sagte sie. Ständig wache ich mitten in der Nacht auf. Manchmal sehe ich ihn an den Türrahmen gelehnt, und wenn ich das Licht anknipse und ihn nicht sehe, schnüffle ich am Holz des Türrahmens und schnüffle am Fußboden wie ein Hund, um die Spur zu wittern, die er hinterlassen hat. In der Nähe parken Autos, jemand steigt aus, geht davon, und sogleich laufe ich ans Fenster, um zu sehen, ob er es ist. Nie ist er es. In der Nacht, als Papa starb, hat Chela aus San Antonio angerufen und es mir mitgeteilt. Sie fragte, ob ich mit ihr nach Buenos Aires fahren wolle, bis zur Beerdigung dauere es noch zwei Tage. Ich sagte, ich könne nicht weg, jeden Augenblick werde Simón zurückkommen. Chela fragte, ob es mir gut gehe, und bedrängte mich nicht weiter. Ich hinterließ eine Nachricht in Hammond, ich sei in Trauer und werde am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheinen. In Wirklichkeit dachte ich, wenn Simón vom Tod meines Vaters erfahre, werde er kommen. Mit zwei argentinischen Filmen blieb ich wach bis zum Morgengrauen,
Zeit der Rache
und
Unser aller Fest
. Im ersten ist Buenos Aires eine schmutzige, hinfällige Stadt, durchzogen von Zementsäulen und halbfertigen Boulevards. Er hat mich an den Morgen erinnert, an dem ich diese selben Ruinen und die von den Zerstörungen zurückgelassenen Familien unter freiem Himmel sah. Im zweiten erscheint flüchtig Papa in der Offiziellenloge des River-Plate-Stadions an dem Abend, da Argentinien die Fußball- WM gewann. Ich war in seiner Nähe und erscheine in einer anderen Szene im Profil. In der falschen Hoffnung, Simón irgendwo auf den Rängen zu erkennen, habe ich das Video mehrmals zurückgespult. Reine Zeitverschwendung.
    Ich bedauerte, mit Emilia nicht Klartext reden zu können, denn wie die Zeugen im Prozess gegen die Befehlshaber war auch ich der Meinung, ihr Mann sei noch in der Nacht seiner Verhaftung in Tucumán umgebracht worden. Einer der Unteroffiziere der Wache gestand, er habe selbst mitbekommen, wie der Militärchef persönlich Simón Cardoso mit einem Schuss in die Stirn getötet habe. Zwei weitere sahen ihn, kurz bevor mit großer Mühe sein von den Foltern übel zugerichteter Körper in den Hof seines Todes geführt wurde. Die Menschenrechtsorganisationen, die die Geschichte untersuchten, waren sicher, dass Dupuy hinter dem Verbrechen stand, doch sie hatten keine Beweisdokumente. Seine Leiche tauchte nie auf. Die Einzelheiten wurden im
Diario del Juicio
veröffentlicht, und sicherlich hatte Emilia sie gelesen und nicht geglaubt. Das geringste Aufblitzen eines Zweifels hätte sie erledigt, denn wenn der Ehemann tot war, so war der Vater der Schuldige, die Mutter seine Komplizin und sie die Tochter eines Mörderpaars. Da wäre sie lieber gar nicht erst geboren oder dann ein Findelkind gewesen, ein Fötus einer Waisenhausinsassin, ein namenloses Luder. Was ich wusste und ihr nicht sagen konnte, schuf zwischen uns ein Vakuum, ein dumpfes, fruchtloses Niemandsland wie der Spalt, der sich im Mandelbaumtor auftut. Das bedauerte ich, denn allmählich entdeckte ich die Ähnlichkeiten zwischen uns beiden. Beide hatten wir auf unsere Art gegen den Tod angekämpft und akzeptierten seinen Sieg über uns nicht. Für mich war die beste Art, über die Runden zu kommen, weiterzuleben, als gebe es den

Weitere Kostenlose Bücher