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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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insistiert Nancy.
    Auf keinen Fall, sagt Emilia. Ich werde einige Tage weg sein.
    Und die Mappe? Nancy gibt sich nicht geschlagen.
    Behalt sie bei dir. Und jetzt lass mich in Ruhe. Es ist ihr egal, dass Nancy gekränkt ist. Sie wird schon wiederkommen, sie kommt immer wieder, wie ein treuer, fersenkleberischer Hund.
    Simón hat sich an den Zeichentisch gesetzt und skizziert eine Karte, eine Insel. Seit längerem suche ich diese Insel, sagt er. Ich finde sie, und sobald ich versuche, sie im Raum zu lokalisieren, entgleitet sie mir. Vielleicht ist das mein Irrtum, vielleicht gibt es im Raum keinen Platz für sie. Ich beginne sie anders zu zeichnen. Ich habe sie auf dem Papier und wende mich einen winzigen Augenblick ab. Wenn ich sie wieder anschauen will, ist sie nicht mehr da. Sie ist verloren gegangen.
    Sie ist also in der Zeit, sagt Emilia. Und wenn sie in der Zeit ist, wird sie früher oder später zurückkommen. Früher und später sind Winkel in der Zeit.
    Wir haben unser Leben damit verbracht, Landkarten zu machen, sagt Simón, und ich weiß immer noch nicht, wozu sie dienen. Manchmal frage ich mich, ob sie nicht bloß Metaphern für die Welt sind. Was meinst denn du?
    Sie sind keine Metaphern, sondern Metamorphosen, wie die Worte und wie die Schatten, die wir werfen. Es genügt, dass eine Karte die Wirklichkeit zeichnet, damit die Wirklichkeit nicht mehr die Gleiche ist. Im ersten Jahr des Geographiestudiums sagte der Professor, die wichtigste Funktion der Karten sei es zu verhindern, dass die Menschen sich verirren.
    Das Gegenteil von dem, was dein Vater wollte, sagt Simón. Die Karten sollten dazu dienen, dass man sich verirrt, dass man nicht mehr weiß, an welchem Tag man lebt, wie viel Uhr es ist, wo die sind, die noch da sind. Er hätte es gern gesehen, wenn wir beide eine Art Karten gemacht hätten, auf denen die Menschen verschwinden und zu Staub im Nirgendwo werden.
    Vielleicht haben wir das ja getan, sagt Emilia. Vielleicht waren wir nur Figuren auf einer Karte, die er und die Kommandanten gezeichnet haben, und auf dieser Karte haben wir uns alle verirrt. Es gibt nichts so Verwirrendes, wie in eine Karte hinzufallen und nicht zu wissen, wo man sich befindet.
    Der Schriftsteller, der mit seinem Schiefertäfelchen durch die Höfe ging, sagte, er sei zweimal in einer Karte verschwunden. Das erste Mal in Japan, erzählte er, kurz nach dem Krieg. Er musste von Nagasaki nach Buenos Aires zurück, hatte die Fahrkarte, aber fast kein Geld. Er war verzweifelt. Die letzten Yen gab er fürs Taxi zum Flughafen aus. Das Unglück ereignet sich immer in dem Moment, da es am ungelegensten kommt, und für ihn ereignete es sich eben dann. Es regnete in Strömen, und die Flüge waren gestrichen. Wenn er an diesem Abend nicht nach Tokio gelangte, verpasste er den einzigen wöchentlichen Flug nach Buenos Aires. Er sprach nicht Japanisch, hatte wie gesagt keinen Centavo mehr, wusste nicht, wie er um eine Unterkunft oder um Essen bitten sollte. Er war elender dran als ein Bettler – ein Mann ohne Sprache. Ein Angestellter der Fluggesellschaft erbarmte sich seiner. Er gab ihm eine Fahrkarte für den Zug, damit er zum Bahnhof Hakata fahren konnte. In Fukuoka, das in der Nähe lag, könnte er das Flugzeug nach Tokio nehmen, und das wäre die Lösung seines Problems. Mit Handzeichen erkundigte er sich, wie lange die Fahrt nach Hakata dauern würde. Sechs Stationen, gab ihm der Angestellte zu verstehen und hielt sechs Finger hoch. Der Schriftsteller stieg in den Zug, sah einen freien Platz und setzte sich eilig hin. Um ihn herum schliefen die Fahrgäste auf breiten Pritschen. Der Schaffner reichte ihm einen weißen Schlafrock, den er jedoch ablehnte, da er befürchtete, er würde dafür bezahlen müssen. Alle trugen einen Schlafrock, und als Einziger in keinen schlüpfen zu können beschämte ihn. Bevor der Zug zum ersten Mal hielt, aßen einige der Mitreisenden Reissandwiches, die sie in eine dunkle Soße tunkten. Der Schriftsteller war hungrig, und um seinen Hunger zu besänftigen, dachte er an etwas anderes. Kurz vor dem Einschlafen sprach er das einzige japanische Wort aus, das für ihn Bedeutung hatte: Hakata. Hakata-ga? Hakata-wa? Einer der Fahrgäste hob hochmütig fünf Finger. Die Geste beruhigte ihn, da sie ihm bestätigte, dass nach dem ersten Halt noch fünf Stationen blieben. Er lehnte den Kopf an die Scheibe und sank in tiefen Schlaf. Mitten in der Nacht wachte er auf. Es goss wie aus Kübeln, als brächen die

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