Purgatorio
nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 aus), und auch nicht derselbe, den du in der geriatrischen Klinik kennengelernt hast. Du hast Glück gehabt, ihm dort zu begegnen. Er hätte auch woanders oder nirgendwo sein können. Wenigstens bist du einem Menschen begegnet, mit dem du über Karten sprechen konntest. Ich bin von Kartographen umgeben, und mit keinem von ihnen habe ich je ein Gespräch geführt wie heute Abend.
An der Haustür wird Sturm geklingelt. Emilia steigt träge die Treppen hinunter und bezahlt das japanische Essen. Sie deckt den Tisch und wärmt den Sake. Sie sagt sich immer wieder, dass sie nur eben davon kosten darf, denn die Reisdämpfe entflammen sie, und Simón soll sie nicht als durstiges Tier sehen. In der geriatrischen Klinik ist dir dasselbe passiert wie mir in den Träumen, sagt sie. Ich sehe Orte, die nicht mehr da sind, und Menschen, die, wenn sie die Träume zu betreten versuchen, verschwinden. Ich reise in Städte, die sich auf Karten bewegen, die noch gar nicht gezeichnet worden sind. In meinen Träumen vergehen die Jahreszeiten schnell, der Winter der Nacht ist am Morgen Frühling, und der Sommer ist Herbst, oder Westen ist Süden. Warum essen wir nicht, mein Liebling?
Lass uns später essen, morgen, sagt Simón. Gehen wir jetzt ins Bett.
Emilia fühlt sich wieder als die Verliebte, die »Papieraugenmädchen« hörte, durch die Straßen von Buenos Aires spazierte und ihn bei der Hand nahm, sie spürt, wie eine dichte Zärtlichkeit in ihr aufbricht, eine Tür, die sich in einem japanischen Zeichen öffnet, und ohne zu wissen, was sie sagt, sagt sie einen Satz, dessen sie sich nicht mehr für fähig gehalten hat, mit einer Stimme, die aus einem anderen Körper, einer anderen Erinnerung zu ihr kommt: Bums mit mir, Simón, worauf wartest du noch, um mit mir zu bumsen?
4
Und glaubt und nicht glaubt,
dass es sei und nicht sei
Purgatorio
, 7 . Gesang, Vers 12
J eden Morgen werfe ich einen Blick in die Onlineausgabe der argentinischen Tageszeitungen. Eines Herbsttages, bevor ich zu meiner Vorlesung ging, las ich zu meiner Überraschung, dass Dr.Orestes Dupuy an einer Lungeninfektion gestorben war. Er war sechsundachtzig gewesen und hatte bereits einige Zeit in Intensivtherapie zugebracht. Ich genas noch von einer schweren Krankheit, wollte Emilia aber trotzdem sehen und ihr mein geheucheltes Beileid ausdrücken. Weder ihr noch mir tat Dupuys Hingang leid.
Nach unserem Gespräch im Restaurant Toscana hatte ich sie aus den Augen verloren. Ich habe noch gar nicht von den Krankheiten erzählt, die mich für eine gewisse Zeit, an die ich mich lieber nicht erinnere, von Highland Park fernhielten. Ich erkrankte schwer und weiß bis heute nicht, wie es die Ärzte angestellt haben, mich am Leben zu erhalten. Die Katastrophen in meinem Körper waren Legion, und die Liste der Ärzte, die mir beistanden, ist lang: der Urologe Jerome Richie, die Onkologen Anthony d’Amico und Jan Drappatz, der Neurochirurg Peter Black und, der Wichtigste für mich, José Halperín, ein alter Freund, mit dem ich das Exil teilte und dank dem ich die anderen kennenlernte. Ich bin sicher, dass sie sich an mich erinnern, und sei es nur, weil ich sie mit meinen Büchern überhäuft habe.
Emilia schickte mir eine Karte mit ihren besten Genesungswünschen ins Krankenhaus, dazu eine CD von Keith Jarrett, die mir sehr gefiel,
The Melody At Night With You
. Seither sind mehrere Monate vergangen, und noch habe ich sie nicht angerufen, um mich zu bedanken. Ich weiß, dass sie nach wie vor in derselben Wohnung in der North Fourth Avenue wohnt und bei Hammond arbeitet. Als ich mir ausrechnete, sie müsse bereits vom Büro zurück sein, gegen sieben Uhr abends, klingelte ich an ihrer Tür. Sie war blass und wirkte gealtert, als welkte sie schneller dahin als ihre Jahre. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich aufrichtig freute, mich zu sehen, und außer Nancy Frears niemanden hatte, mit dem sie sprechen konnte. Ich mochte den Besuch nicht ausdehnen und wollte eigentlich den Tee mit süßem Gebäck ablehnen, den sie auftrug, kaum dass wir uns gesetzt hatten, doch dann beherrschte ich mich, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Eine der jüdischen Gemeinschaften des Ortes hatte sie gebeten, die Karte mit den Grenzen des
Eruv
neu zu zeichnen, die im Sturm von 1999 vernichtet worden war. Als sie mir ihre Entwürfe zeigen wollte, brach sie unversehens in Tränen aus. Es war eine unbehagliche Situation, und ich wusste nicht, was ich tun
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