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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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Himmel ein. Die Berge in der Ferne waren von mondenem Licht beleuchtet, und neben den Schienen ernteten die Bauern Reis. Er konnte sich nicht vorstellen, an welche Stelle der Landkarte es ihn verschlagen hatte. Er wagte sich nicht auszumalen, was aus ihm würde, wenn der Schaffner ihn hinauskomplimentierte. Er fand sich schon damit ab, den Rest seines Lebens auf den Reisfeldern zu verbringen, unter Menschen, mit denen er sich nie würde verständigen können. Endlich hielt der Zug. Er konnte den Namen des Bahnhofs nicht entziffern – er war in japanischen Zeichen angeschrieben. Hakata?, fragte er den Mitreisenden, der ihm vorher die fünf Finger gezeigt hatte. Hakata-ga, Hakata-ka, antwortete der Mann. Gemächlich faltete er eine Karte auseinander und zeigte ihm einen riesigen Buchstaben, der für den Schriftsteller nichts bedeutete. Der Buchstabe war eine Art Schachtel, die sich auf zwei gespreizte Beine stützte. Hakata, wiederholte der Fahrgast. Er öffnete eine verborgene Tür im Buchstaben, zwinkerte ihm verschwörerisch zu und forderte ihn auf einzutreten. Der Schriftsteller bedankte sich und ging hinein. Auf der anderen Seite war es Tag. Am Himmel strahlte eine stählerne Sonne. Vor ihm tat sich ein Kontrollhäuschen auf, ähnlich dem Buchstaben, den er soeben durchschritten hatte. Zwei Soldaten stoppten ihn. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die nicht Japanisch war. Es klang eher wie Hebräisch oder Arabisch. Der Schriftsteller sprach sie auf Englisch an, und zu seinem Erstaunen verstanden sie ihn. Wo bin ich?, fragte er. Sie befinden sich beim Mandelbaumtor, an der Grenze, antworteten sie. Wenn Sie sie überqueren wollen, zeigen Sie Ihren Pass. Der Schriftsteller hatte ihn bei sich; er hatte auch den Koffer, den Regenschirm und die Bücher bei sich, mit denen er unterwegs war. Ängstlich fragte er: Hakata?, und zeigte seinen Pass. Die Soldaten stempelten ihn ab und beschrieben ihm einen langen Weg.
No man’s land
, sagte einer der beiden.
Hakata no man’s land
, wiederholte der Schriftsteller zufrieden. Zwischen Kieseln, verbogenen Eisenstücken, verrosteten Drähten und Skeletten unbrauchbar gewordener Panzer ging er auf dem Weg weiter. In der Ferne erblickte er die Minarette einer Moschee und hörte den Gesang des Muezzins. Er wusste nicht, auf welche Seite der Grenze er zuging, und es war ihm auch egal. Hakata?, sagte er laut, um sich zu ermutigen. Rechts von diesem Niemandsweg sah er auf den Ruinen einer Mauer eine große Landkarte, die die Stadt Jerusalem darstellte – das Jerusalem des Ptolemäus, die Mitte der Welt. Oberhalb der Karte sah er das japanische Zeichen, dessen Bedeutung er nie in Erfahrung bringen konnte. Er wunderte sich und rief unwillkürlich: Hakata! In der Karte tat sich eine Tür auf, und ohne gegen seine Neugier anzukommen, schaute er hindurch, um zu sehen, ob es auf der anderen Seite wieder Nacht war. Er hegte die Hoffnung, wenn er hindurchginge, würde er in den Zug zurückfinden, nach Hakata gelangen und den Flug nach Buenos Aires erwischen. In gewisser Weise hatte ich recht, sagte der Schriftsteller, denn ich bin in dieser geriatrischen Klinik gelandet und kann mich nicht mehr wegrühren. Manchmal versuche ich, auf der Schiefertafel die japanische Karte zu reproduzieren. Es gelingt mir nie, ich zeichne bloß Inseln, Länder, die nicht einmal ich kenne. Ich bat ihn, mir seine Zeichnungen zu zeigen, sagt Simón, und er hielt mir die leere Tafel vor die Nase. Ich gab ihm zu verstehen, es sei keine einzige Linie zu sehen, und er sagte, das sei seine beste Zeichnung: eine Insel, die verschwinde, kaum finde sie einen Ort im Raum. Das versuche ich auch zu machen, fährt Simón fort. Ich kopiere die Insel, reproduziere vorsichtig dieselben Umrisse, und nichts geschieht. Manchmal umgebe ich sie mit Meer, kröne sie mit einem Kompass, damit sie sich im Raum orientieren kann, und wenn ich sie wieder anschaue, ist die Insel, wo sie immer war.
    Deine Insel ist nur eine Metapher, bemerkt Emilia. Dem Mann mit der Schiefertafel dagegen ist es gelungen, dass seine Karten Metamorphosen geworden sind. Er selbst muss, jetzt, da ich es bedenke, eine Metamorphose in Bewegung gewesen sein. Er zog sich geschickt aus der Affäre, ließ sich von seinem ewigen Mittag einhüllen. Der von Nagasaki aufgebrochen ist, war nicht derselbe wie der, der in den Zug nach Hakata eingestiegen ist, und auch nicht der, der durchs Mandelbaumtor gegangen ist (das es nicht mehr gibt, wie du weißt, damit war es

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