Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
Vom Netzwerk:
Tod überhaupt nie, glücklich jeden neuen Morgen empfangend. Emilia, die mutiger war, ließ nicht zu, dass ihr das Verhängnis der Vergangenheit die Gegenwart ruinierte, und verharrte in ihrer Erwartungsroutine, im Glauben, so nähere sich der erfüllte, endgültige Tag, an dem er sie holen käme. Als sie zu mir sagte: »Ich vermisse ihn einfach so sehr«, klang ihre Stimme wie ein brechender Ast. Sie war nicht mehr derselbe Mensch wie der, der im Toscana mit mir zu Mittag gegessen hatte.
     
    Sie verschloss vor allem die Augen. Sie konnte die ihrem Vater beim Auseinanderbrechen der Militärdiktatur nach der Falkland-Niederlage zur Last gelegten Grausamkeiten unmöglich ignoriert haben. Der ganze Horror der Vergangenheit überflutete nun die Deiche und kam ans Licht: die Folterungen und Blendungen von Gefangenen, die in den Río de la Plata und in Massengräber geschmissen worden waren, der Raub von Neugeborenen, die Vergewaltigungen, die Kämpfe bis auf den Tod gegen nicht existierende Feinde. Dupuy war an jeder einzelnen dieser Höllen beteiligt: Er hatte zu ihrer Erschaffung beigetragen, sie abgesegnet und den Gesandten von Präsident Jimmy Carter gesagt, das seien Wahnvorstellungen der Extremisten. Als die Diktatur unterging, brachte er sich als Erster in Sicherheit. In seinem Abschiedseditorial in
La República
verkündete er das Ende der Zeitschrift, da die Menschen in diesen neuen Zeiten Radio und Fernsehen jeder Art von Lektüre vorzögen. Er sei ein Mann des Wortes, sagte er, und für ihn sei es einerlei, die Worte schriftlich oder mündlich darzulegen, solange sie frei seien. Er gestand, in der Vergangenheit schwere Unterlassungssünden begangen zu haben (er sprach noch von Sünden), und Millionen Argentinier teilten diesen Fehler mit ihm. Er bat um Verzeihung, da er dem Floaten des Dollars mehr Aufmerksamkeit geschenkt habe als den Leichen im Río de la Plata. Ich bin für diese Fehler verantwortlich, ebenso wie viele meiner Landsleute. Der letzte Satz des Editorials war ein Muster perfiden Zynismus: »Die Diktatur, unter der wir Argentinier gelitten haben, war kriminell und korrupt wie keine andere zuvor. Sie hat uns in Unkenntnis der Schrecken gelassen, die sie beging, und keinen einzigen davon nicht begangen. Dank Gottes weisem Plan ist der Albtraum nun zu Ende.«
    Er ließ Fernsehinterviews zu, in denen er gefährlichen Fragen auswich, pries, jetzt ohne den Charme seines ehrlichen Faschismus, die Tugenden der demokratischen Toleranz und bezeichnete sich als Christen, der bereit sei, auch über Ideen und Kredos zu diskutieren, die ihn abstießen, wobei er allerdings nicht erklärte, welche das waren. Obwohl er sich alle Mühe gab, niemandem auf den Schlips zu treten, wurden einige seiner Großtaten im Prozess erörtert. Um die Bestrafung kam er herum, nicht jedoch um seine Verdammung. Die Leiterin eines Mädchenwaisenhauses sagte aus, ab und zu sei der Doktor zu den Insassinnen gekommen, habe sich die jüngsten unter ihnen ausgesucht und sie in seinem Auto spazieren gefahren. Keine von ihnen sei jemals zurückgekehrt. Es waren junge Mädchen, die noch kaum dem Jugendalter entwachsen waren und die nähen, kochen und rechnen gelernt hatten. Sie hatten keine Familie, die nach ihnen verlangte, und lebten abgeschieden ohne den geringsten Kontakt zur Außenwelt im Waisenhaus. Ich las die Aussage der Leiterin im
Diario del Juicio
, und danach fühlte ich mich von diesem schwindelerregenden Horror tagelang krank und voller Scham über das, was wir zugelassen und wozu wir geschwiegen hatten, über die Niedertracht, in die die menschliche Spezies verfallen kann. Als ich die Geschichte meiner Nachbarin Ziva Galili erzählte, sagte sie, Lavrenti Beria, einer von Stalins Henkern, werde der gleichen Gräuel bezichtigt. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg leitete Beria die NKWD , die Geheimpolizei der Ud SSR . Bei Einbruch der Dunkelheit machten er und seine Schergen sich jeweils auf die Jagd nach jungen Mädchen in den Straßen von Moskau, Kokoschinko, Noginsk oder des Vororts, in den ihre Spionagetätigkeit sie gerade führte. Wenn ihm eines der Mädchen gefiel, hieß er sie ihr unauffällig folgen. Unversehens griff er an. Einer der Schergen schnitt dem Opfer mit dem Auto den Weg ab und riss rasch die Tür auf, während ein anderer sie hereinzerren half. Im Inneren prüfte Beria sie. Fiel diese Prüfung zufriedenstellend aus, so brachte er das junge Mädchen zu einem klandestinen Haus, wo man sie knebelte und fesselte.

Weitere Kostenlose Bücher