Purgatorio
República
kam sie um halb zwei abholen. Menschenmassen verstopften den Weg zum Stadion, lange, in die argentinische Fahne gehüllte menschliche Ameisenhaufen defilierten mit Stirnbändern, den Jakobinermützen des Nationalwappens, in himmelblau-weiße Schals gehüllt, mit dem ganzen Gepränge patriotischer Glut. Buenos Aires erlebte ein glückliches Delirium. Zwei Polizisten auf Motorrädern bahnten ihnen einen Weg. Hunderte weitere waren in der Umgegend postiert, um die Honoratioren zu bewachen. Einige Zuschauer sprangen über die Absperrungen und klatschten Dupuy Beifall, als sie ihn erkannten. Was für ein Luxus, welch ein Privileg, Sie bei diesem Fest bei uns zu haben, Doktor, riefen sie. Der Vater konnte der Versuchung nicht widerstehen und streckte den Kopf aus dem Wagenfenster und drückte die ihm entgegengereckten Hände. Man konnte nur schwer ausmachen, wer wer war, Raserei und Fanatismus verbanden sie wie siamesische Zwillinge. Eine Frau rangelte, durchbrach den Polizeikordon und drängte sich bis zu ihm vor. Doktor, Doktor, Sie sind meine letzte Hoffnung, schrie sie. Man hat meine Tochter aus ihrer Wohnung weggeholt, als sie im sechsten Monat schwanger war. Mein Enkelchen wird bereits auf der Welt sein, wer weiß, wo. Sorgen Sie dafür, dass man sie mir wiedergibt, Doktor, ich kann nicht sterben, ohne sie noch einmal zu sehen. Sie heißt Irene, Irene Cruz. Sie schaffen es, Doktor, Sie schaffen es. Sie versuchte, seine Hände zu streicheln, das Weinen verhedderte ihre Worte. Dupuy schaute sie nicht einmal an. Seine Aufmerksamkeit war auf das Publikum gerichtet, das hüpfte und applaudierte. Die Frau reichte ihm eine Karte, während die Polizisten sie hochhoben und aus dem Strudel zerrten. Emilia nahm das Kärtchen und las eine Telefonnummer, zwei Namen, eine Adresse in Villa Adelina. Was wirst du tun, Papa?, fragte sie. Was soll ich denn tun?, antwortete Dupuy und hieß den Fahrer, nicht mehr anzuhalten. Im Stadion nahm er hinter den Kommandanten Platz; Emilia teilte mit den Gattinnen eine der Logen in der Nähe. Sie sah den Vater dem Aal einen unhörbaren Satz zuraunen. Die Karte der flehenden Frau zitterte in ihren Händen wie ein Lebewesen, und sie verbarg sie eilig in der Rocktasche.
Um sie herum krachten Leuchtraketen, das ganze Stadion hüpfte und sang Argentinien, Argentinien. Sie merkte, wie diese Glut sie anekelte, ihr die Würde nahm, hinauszulaufen und Irene Cruz’ Mutter aufzusuchen und zu umarmen. Wer konnte wissen, in was für höllischen Verliesen die Tochter und der ungeborene Enkel begraben waren, während die Ränge Argentinien, Argentinien sangen, wer konnte wissen, ob sie diese Frau, wenn sie sich ihr näherte, nicht zum Tode verurteilte. Dort drüben, wenige Meter entfernt, unterhielt Dupuy lächelnd die Ohren des Aals mit den Intrigen der hohen Befehlshaber, während er den anderen Kommandanten das Libretto dessen diktierte, was sie an diesem siegreichen Tag tun und den Radios für Erklärungen abgeben sollten. Um Emilia herum fassten sich alle Zuschauer, selbst die steifsten, um die Hüften und hüpften, skandierten Sprechchöre gegen die Holländer, hüllten sich in Fahnen und gefärbte Laken. Argentinien Weltmeister!, rief der dicke Muñoz in den Transistorradios, Großes, großes, siegreiches Argentinien! Hört, ihr Sterblichen, den heiligen Ruf! Emilia löste sich aus den Umarmungen, nahm die Karte der Señora Cruz, zerriss sie in kleine Fetzen und ließ sie fliegen mit den Tausenden Papieren, die nachmittags um fünf den Himmel verdunkelten.
Ich bemühte mich weiterhin zu verstehen, was genau der
Eruv
ist, als Emilia mich bat, sie aufzusuchen. Der Oktober schritt voran, der November ging zu Ende, und es war kaum kalt. In Vietnam froren die Seen zu und in Libyen die Oasen, doch in Highland Park, wo sonst um diese Zeit der erste Schnee des Jahres fällt, wollte die ungehorsame Sommerhitze um keinen Preis verschwinden, und die Einwohner trotteten vom frühen Morgen an leicht bekleidet durch den Park. Die von Emilia gezeichnete Karte des
Eruv
war bereits im Internet zu konsultieren: der Donaldson-Park und der Raritan blieben außerhalb seiner Grenzen. Meine Freundin Ziva nannte ihn
Eiruv
oder
Ieruv
, nach russischer Art. Einer der Rabbiner des Orts machte sich die Mühe, mir zu erklären, es handle sich um eine symbolische Einfriedung, um die öffentlichen von den privaten Räumen zu trennen. Am Tag des Herrn ist es nicht gestattet, gewisse Dinge von einem Ort an einen
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