Purgatorio
zurückkehren kann. Das Exil.
Ich trat auf den Spiegel zu und schaute. Vom Nachttisch lächelte das Foto des jungen Simón in den Spiegel. Das Zimmer war unaufgeräumt, und es war merkwürdig, dass mich Emilia, immer so reinlich, überhaupt hineingelassen hatte. Auf dem Bett lagen einige aufgeschlagene Zeitschriften, von der Art, wie die Leute sie in den Schlangen im Supermarkt lesen, mit großen Fotos von Jennifer López, mit Zwillingen schwanger, und Britney Spears in der Klinik ihrer Verzweiflung. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Emilia eine so ungesunde Neugier auf diese fremden Leben empfand, aber eigentlich ist es logisch – die Emilia der Rabattmarken und des Bingo gehört in diesen Winkel der Welt. Nie kann man einen Menschen ganz kennen, und Emilia hatte ich nur auf einer Seite des
Eruv
gesehen, und nie würde ich wissen, wer sie wäre, wenn sie auf die andere Seite ginge. Ich sprach von dort aus, wo ich stand, zu ihr, um sie zu beruhigen. Ich bin immer noch vor dem Spiegel, Emilia. Da ist niemand. Das Einzige, was ich sehe, ist das Bild eines Idioten, der da steht und zu dir spricht, ich sehe einen Schatten neben mir, aber es ist der Schatten des Idioten. Wie sehr ich mich auch bemühe, nie werde ich Simón sehen, denn die einzige Daseinsberechtigung deines Simón ist, dass nur du ihn siehst.
Wann war das? Wann war das, als Emilia mich hilfesuchend anrief, ich ihre Wohnung betrat, mich in ihrem Spiegel anschaute und wieder ging, ohne meinen Körper wiederzuerkennen, mit dem Gefühl, in meinen Körper seien Erinnerungen eingetreten, die nicht mir gehörten und die ich nicht loswerden konnte, Erinnerungen, die beharrlich in mir blieben, obwohl ich hinauslief und sie aus den Augen verlor? Am Samstag vor zwei Wochen? Tags darauf, am Sonntag? Ich hatte es nicht in die Agenda eingetragen, und im Durcheinander der letzten Tage haben sich die Daten verheddert. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich habe sie im Büro bei Hammond angerufen, um ihr etwas zu dem Roman zu sagen, an dem ich schreibe, aber man teilte mir mit, sie sei nicht mehr erschienen. Zweimal ging ich bei ihr vorbei und wunderte mich, den alten silberfarbenen Altima weder vor der Tür in der North Fourth Avenue noch auf dem Parkplatz von Rite Aid zu sehen, wo sie ihn ebenfalls abstellt.
Mehr als einmal war ich drauf und dran, ihr Einzelheiten meines Romans zu beschreiben. Ich beherrschte mich aus Schüchternheit, aus Scham, aus dem namenlosen Grund, der die Schriftsteller das, was sie tun, geheim halten lässt, ehe sie fertig sind. Ich schwieg, versunken in den Sumpf von Entwürfen, aus dem ich noch nicht herausgefunden habe. Sie ist die Figur, um die herum sich die ganze Geschichte dreht, sie war es schon, bevor ich sie kennenlernte, und jetzt schreibe ich lieber nicht weiter, bevor wir ein sehr ernstes Gespräch geführt haben. Ich erwarte nicht, dass sie mir erlaubt weiterzumachen, Romanfiguren sind keine Zensoren, mischen sich nicht in das ein, was mit ihnen angestellt wird. Meistens erfahren sie nicht einmal etwas von ihrem Los. Aber Emilia ist nicht nur meine Figur, sie ist auch ein lebender Mensch, jemand, den ich kenne, eine Freundin, die ich in den Schlangen von Stop & Shop antreffe, die mir von ihrem Unglück berichtet hat. Oder ist sie jemand, der sich nur in mir drin befindet wie Simón sich in ihr? Bevor ich hinausging, um sie zu suchen, erinnerte ich mich an einige Zeilen von Felisberto Hernández:
Es gibt nur dann Verrat, wenn man mit jemandem anderen lebt. Aber an dem Körper, in dem ich lebe, ist kein Verrat möglich.
Laut Hernández ist das eine hoffnungslose Situation. Das muss ich mit Emilia klären, muss wissen, wo sie beginnt und wo ich ende. Das Missverständnis beunruhigt mich.
Schreiben war für mich immer ein Akt der Freiheit, der einzige, durch den mein Ich spazieren geht, ohne Rechenschaft abzulegen. Beim Schreiben lasse ich mich gehen. Erst nach einigen Schritten denke ich an die Grenzen dessen, was ich tue: ob ich auf einen Roman oder einen Essay zusteuere, ob es ein Bericht ist oder ein Filmdrehbuch oder ein Nachruf. Auf dieser Reise habe ich mich mehr als einmal verirrt. Ich verirre mich vor allem dann, wenn ich die Grenzen zu überspringen versuche. Auch wenn sich die Grenzen widersetzen, überschreite ich sie. Ich will sehen, was auf der anderen Seite der Wörter ist, in den unsichtbaren Landschaften, in den Erzählungen, die verschwinden, je weiter ich sie entwickle. Wenn ich es mit der Poesie
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