Purgatorio
Kopfende sitzende Mann stand auf und schaute Emilia misstrauisch an. Hören Sie, Señora, Señorita, sagte er weiterkauend. Ein einziger gelber Zahn verschönerte seinen Mund. Kommen Sie von der Einwohnerbehörde? Ich weiß nicht, was das ist, antwortete Emilia. Ich erstelle einen Zonenplan. Ach, Sie kommen vom Katasteramt, das ist dasselbe. Können Sie für uns rausfinden, wann man uns die Entschädigung bezahlt? Sie haben gesagt, heute schicken sie uns das Geld, die Lastwagen kommen und bringen uns zur neuen Wohnung, aber da geschieht rein gar nichts, wir warten seit dem frühen Morgen. Unsere Nachbarn sind schon letzte Woche gegangen (er umschrieb mit den Armen das Brachland). Und die von vorher haben sie schon ausgezahlt. Sehen Sie doch, wie wir hausen. Es ist die Hölle. Einige haben Glück gehabt, man hat ihnen einen Monat zugestanden, um zu gehen. Es hätte noch schlimmer sein können, sagt man mir. Im Pasaje de las Garantías ist eine alte Frau gestorben, als sie die Lastwagen kommen sah. Sie hatte fünfzig Jahre im selben Zimmer gewohnt, in derselben Küche gekocht, und sie ist bis zum letzten Tag dort geblieben, um sich von den einstürzenden Decken, vom Hühnerstall, den Pflanzen im Garten zu verabschieden.
Emilia musste auch den Pasaje de las Garantías zeichnen und ging ihn besichtigen. Die Passage war verlassen, leer, grau wie der Mond und voller Krater. Vielleicht hatte die Autobahn die Bewohner vertrieben. Das war eines der wenigen Teilstücke, wo die Bauarbeiten beendet waren. An den Enden erhoben sich zwei Häuser aus vorfabrizierten Wänden inmitten moribunder Gärten. Eines davon war nichts weiter als eine Höhle, die das Gewicht der drohenden Säulen überlebt hatte. Dahinter, unter den Zementkurven, in einem gespenstischen ehemaligen Schrebergarten, verteidigten einige wenige Pflanzen ihre Portion Sauerstoff und Feuchtigkeit unter Blechplatten, die bereits zu rosten begannen. Sie glaubte das Leuchten einer das Unkraut überragenden Freesie zu sehen. An einem der Stände in der nahe gelegenen breiten Straße kaufte sie einen Blumenstrauß. Sie hatte verzweifelte Lust, ihre Mutter lächeln zu sehen, wollte, dass ein Flämmchen Glück in ihrem Leben angezündet würde, dass Simón überraschend von einem unbekannten Himmel herabkäme, dass die Leute auf den Gehwegen tanzten – was auch immer, wenn bloß ihre Traurigkeit verflöge.
Nach Chelas Hochzeit verbrachte Señora Ethel eine flüchtige Zeit im großen Haus in der Calle Arenales. Emilia zog sich mit ihr ins Schlafzimmer zurück, beschützte sie mit Schuberts Quartetten und den Walzerchen ihrer weit zurückliegenden Brautzeit, wechselte ihr das Nachthemd, parfümierte sie und spazierte mit ihr beim Dunkelwerden durch die düsteren Gänge. Sie war dieselbe wie immer – oder vielleicht auch nicht, aber man nahm die Veränderungen nicht wahr. Sie betrachtete ihre Tochter mit unveränderter Verwirrung, siezte sie, nannte sie beim Namen ihrer verstorbenen Freundinnen und sagte immer wieder unverständliche Wörter. Wenn ihre Tochter sie umarmte, versteifte sie sich unter ihrer zarten Haut wie eine verschreckte Schildkröte. Als sie später ins Straßenlicht hinaustrat, um in die geriatrische Klinik zurückgebracht zu werden, schien ihr weiterhin alles einerlei zu sein.
Emilia zahlte sämtliche Preise, die ihr Dupuy abverlangt hatte. Sie lebte im Familienhaus wie in einem weiteren Grab und in Erwartung des nächsten Besuchs ihrer Mutter – dieses kurze Glück war ihr Entschädigung und Trost. Die Wohnung in San Telmo leer zu lassen war eine Verschwendung, so dass sie sie periodisch an Touristen vermietete. Sie ließ die Möbel an Ort und Stelle, um die Freiheit zu haben zurückzukommen, wenn es nötig wäre, oder um sich zum Weinen zurückzuziehen.
Es fehlten nur noch wenige Wochen bis zu den WM -Spielen. Eines Sonntags hieß sie der Vater, ihn zu den Proben für die Eröffnungsfeier zu begleiten. Wir werden der Welt unsere Disziplin zeigen, sagte er; man soll uns sehen, wie wir sind: ewiger Stahl, Musterbeispiele von Frömmigkeit und Ordnung. Vor vierzig Jahren haben die deutschen Athleten in Berlin mit ihren Körpern den Namen ihres Vaterlandes und das Kreuz der Nationalflagge gebildet. Jetzt wird man sehen, dass die jungen Argentinier diesen Göttern des Stadions in nichts nachstehen. Hier wird dasselbe geschehen, Hunderte Kinder bereiten sich darauf vor, Buchstabe für Buchstabe das geheiligte Wort zu bilden, A-r-g-e-n-t-i-n-i-e-n. Eine
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