Purgatorio
anderen zu bringen. Einige Gemeinschaften verbieten den Frauen, Schmuck und Sonnenbrillen zu tragen, wenn sie sie nicht unbedingt brauchen. Er nannte mir ein einfaches Beispiel: Am Samstag,
Schabbes
, ist das Bauen nicht erlaubt. Einen Schirm öffnen, sagte er, ist wie ein Zelt aufstellen. Demzufolge darf man am Samstag nicht mit einem Schirm von der einen Seite des
Eruv
zur anderen gehen. Die Fläche von Highland Park ist kleiner als fünf Quadratkilometer, und ein guter Teil des schwarzen Viertels befindet sich innerhalb der Einfriedung, denn der Allmächtige gehört allen, sagte der Rabbiner, selbst denen, die zu ihrem Unglück nicht an ihn glauben.
Als ich bei ihr klingelte, hatte Emilia gerade einen Nervenzusammenbruch hinter sich gebracht und schien gleich in den nächsten fallen zu wollen. Ich weiß nicht, wie ich es die Treppen runter bis zur Veranda geschafft habe. Ich hakte sie unter und führte sie in die Diele. Niederlagen der Vernunft verwirren mich, und in solchen Fällen weiß ich nie, wie ich helfen kann. Ich fürchte, die falsche Saite anzuschlagen und das ganze Gebäude der fragilen Seele zum Einsturz zu bringen. Emilia hatte sämtliche Lichter in der Wohnung angemacht. Ihr Körper zitterte, als bräche gleich die Welt in ihm zusammen. Sie wollte mir etwas sagen, aber ich konnte ihr Gestammel nicht verstehen. Auf einen Außenstehenden hätte die Ungeschicklichkeit und Angst, mit der ich sie aus dem Abgrund herauszuholen versuchte, vermutlich lächerlich gewirkt. Ich brachte ihr Wasser und fragte, ob ich einen Krankenwagen rufen solle. Sie trank und schlug den Krankenwagen entsetzt aus. Eine Weile blieb sie stumm, und als sie in den Sessel gesunken war, umklammerte sie ihre Knie. Immer schon hatte ich den Eindruck gehabt, in ihr wohnten drei Frauen beieinander: die Alte, die die Ladentische von Stop & Shop mit Rabattmarken übersäte, die in Simón Verliebte und das kleine Mädchen, das von Dr.Dupuy vernichtet worden war. Jetzt befanden sich alle drei hier, und ich wusste nicht, an welche ich mich wenden sollte. Ich wartete, bis sie ruhiger atmete, und fragte dann, ob sie irgendein Schlafmittel im Haus habe. Ich würde es ihr geben und warten, bis sie einschliefe, und dann sehen, wie es ihr am nächsten Tag ginge. Sie sagte, in der Hausapotheke im Bad habe sie Pillen für den Notfall, und ich ging einen Blick hineinwerfen. Da standen zehn, zwölf Fläschchen mit der ganzen Flora und Fauna der Pharmakologie: Estradiol, um die von der Menopause verscheuchten Hormone zu kompensieren, Benadryl und argentinisches Lexotanil zum Schlafen, Clonazepam und Vicodin, um die Angst zu beseitigen und dann zu verblöden. Fast alles waren gefährliche Drogen, mit denen sich Emilia umbringen konnte, wenn sie wollte. Doch sie würde sich nicht umbringen, solange sie auf Simón wartete.
Einmal mehr war Simón der Grund ihres Anrufs. Bitte, geh in mein Zimmer, sagte sie, und schau, ob er sich da irgendwo versteckt. Ich schau mich im Spiegel an und sehe nicht mich selbst, sondern ihn, stehend, da, wo mein Körper ist. Seit Tagen arbeite ich an einer Karte (es passiert immer hier, nie bei Hammond), ich stehe auf, um ins Bad zu gehen oder mir einen Kaffee zu machen, und wenn ich zurückkomme, ist die Karte voller Fehler oder ausgelöscht worden, und ich kann nicht mehr an den Anfang zurück.
Vielleicht löschst du die Dinge aus Zerstreutheit, sagte ich. Das passiert uns allen. Oder vielleicht erinnerst du dich nicht mehr an die Fehler, die du gemacht hast. Du nimmst doch nicht Kokain, LSD oder so was? In deiner Hausapotheke gibt es Musik, die einen Elefanten zum Fliegen bringt.
Nein, davon habe ich mich ferngehalten, sagte sie. Vielleicht später, wenn ich dann mal wirklich alt bin. Zudem mache ich sehr selten Fehler bei den Karten. Bei der Arbeit geschieht mir das nicht, warum dann hier? Kaum betrete ich die Wohnung, habe ich das Gefühl, dass jemand da ist. Alles ist an seinem Platz, und doch ist nichts gleich. Ich weiß nicht, ob mir die Sinne einen Streich spielen, und möchte das, was ich sehe und höre, mit deinen noch intakten Sinnen vergleichen.
Ich werde auf den Spiegel achten, sagte ich, aber verlass dich nicht auf mich. Auch ich höre, was ich nicht will, glaube, dass ich den Tastsinn verliere, dass mir die Ohren und die Augen versagen. In einem Roman, den ich vor zwanzig Jahren schrieb, haben die Katzen meinem Helden die Sinne geraubt – als er starb, hatte er keinen einzigen mehr. Jetzt glaube ich, er
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