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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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kommt zurück, um sich an mir zu rächen.
    Das habe ich gelesen, sagte sie. Die Person heißt Carmona.
    Ich freute mich, dass sie sich an ein Buch erinnerte, das nur wenige kennen. Aber niemand war ungeeigneter als ich, um sie in die Wirklichkeit zurückzuholen. Ich fragte sie, ob sie Simón sehe oder ob sie glaube, ihn zu sehen.
    Ich verstehe den Unterschied nicht, antwortete sie. Ich spreche zwar nicht mit ihm, kann ihn nicht berühren, aber ich weiß, dass er da ist. Seit ich ihn entdeckt habe, wie er sich an den Türrahmen lehnte, die Tür dort – sie deutete auf ihre Schlafzimmertür –, ist er nicht mehr gegangen, er will nicht gehen. Er sagt etwas zu mir, und ich bin nicht imstande, es zu hören.
    Auch ich verstehe dich nicht, Emilia, sagte ich. Du solltest deine Erinnerungen ins Reine bringen. Bei dem, was du mir erzählst, gibt es blinde Flecken, Widersprüche, Episoden, die sich nicht dann ereignet haben können, als du sie erlebt zu haben glaubst. Immer wieder verliere ich den Überblick bei dem Kommen und Gehen deiner Mutter zum Haus in der Calle Arenales, bei deiner Rückkehr nach San Telmo, bei den Verzögerungen von Chelas Heirat, bei den Intrigen deines Vaters. Vielleicht sind meine Sinne genauso angegriffen wie deine. Du solltest einen Arzt aufsuchen. Ich kann dir nicht helfen. Wie du sehe ich Bilder, die es nicht gibt, aber deswegen misstraue ich noch nicht meinem Verstand. In fernen Wirklichkeitsordnungen oder in Wirklichkeiten, die nicht die unseren sind, gibt es auch Gestalten und Gefühle. Bist du einmal im Jüdischen Museum in Berlin gewesen?
    Nein, sagte sie, ich war nie in Deutschland.
    Ich habe es 2005 besichtigt und mich nicht dazu aufraffen können, noch einmal hinzugehen.
    War es eine so schmerzliche Erfahrung?
    Irgendwie war sie schmerzlich, aber das ist nicht der Punkt. Ich hatte dieselben falschen Wahrnehmungen wie die, von denen du mir erzählst. Ich hörte Stimmen, setzte mich in einen Hinterhof zu meinem verstorbenen Vater, es waren Vergangenheiten, die sich in mir drin befanden und zurückkehrten. Irgendwo hatte ich gelesen, das Museum sei ein Meisterwerk der Architektur, und das ist es. Ich könnte dir nicht erklären, warum, es gibt ganze Bücher darüber. Ich will dich nicht behelligen mit Winkeln, den seltsamen vertikalen Ebenen, den Decken, die auf einen einstürzen, den Stillen, die sich auftun und beim Weitergehen wieder schließen, sondern von dieser anderen Wirklichkeit erzählen, die man auf einmal betritt, während man spürt, dass man sich auf immer verlieren könnte. Du hast lange Jahre auf Wanderschaft und im Exil gelebt, Emilia, du glaubst zu wissen, was ist, könntest es aber nicht erzählen, es gibt weder Erzählungen noch Worte auf diesem Nichtsgebiet, denn was in dir war, ist draußen geblieben, sowie du die Schwelle überschritten hast. Man könnte sagen, in diesem Moment habe man das Fegefeuer betreten, wenn das Vorher die Hölle gewesen wäre (war es aber nicht, wenigstens für mich war es sie nicht) und wenn danach das Paradies käme, das nie kommt. Und wenn die Wanderschaft zu Ende ist, wenn man in den Schoß der Familie zurückkehrt, von der man weggegangen ist, denkt man, man hat den Kreis geschlossen, aber beim Besichtigen des Museums merkt man, dass die Reise nur eine Hinreise war. Aus dem Exil kommt keiner zurück. Was man verlässt, das verlässt einen. Im Süden des Museums, auf einem Nebengelände, erhebt sich (nichts erhebt sich, da greift jedes Verb zu kurz – erhebt sich?, tut sich auf?, breitet sich aus?) das, was man als Garten des Exils kennt, neunundvierzig hohle Betonstelen, die schräg angeschnitten sind: eine schiefe Sicht aufs Leben. In jeder Säule ragt eine Ölweide auf: Man sieht nicht, woher der Baum kommt, man sieht nur die Verzweiflung der oben zu Tage tretenden Äste, ans Licht zu gelangen, sich mit dem Himmel zu treffen und zum Himmel zurückzukehren, den sie irgendwann verloren haben. Das Mitleid treibt einen zum Weitergehen zwischen den Säulen an, damit sich die Bäume weniger allein fühlen. Man geht. Der Boden besteht aus runden Steinen, ist ebenfalls geneigt, ein Grenzweg der Welt, auf dem die Dinge ihrem Zusammenbruch entgegengleiten. Man hat kaum zwei Schritte getan, und schon ist man nirgends mehr, es gibt keine Säulen mehr, keine Bäume, keinen Himmel, der Kompass, der einen geführt hat, ist verschwunden, deine Daseinsberechtigung ist ausgelöscht, du bist nichts und hast an einem Ort angehalten, von dem keiner

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