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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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versuchte, würde ich vielleicht diesen unerreichbaren Horizont erspähen. Aber zu meinem Leidwesen bin ich kein Dichter. Wäre ich es, so könnte ich die wirkliche Natur der Dinge benennen, endlich das Zentrum finden, statt mich an den Rändern zu verirren. Was werde ich Emilia sagen, wenn ich sie sehe?
    Dass wir Menschen für alles außer für unsere Träume verantwortlich sind. Schon vor vielen Jahren, bevor ich sie kennenlernte, träumte ich von ihr und machte aus diesem Traum die ersten Zeilen einer Erzählung, die ich von einem Land zum anderen mitgenommen habe in der Annahme, irgendwann würde sich der Traum wiederholen und mir damit den nötigen Anstoß geben, sie zu Ende zu schreiben. Ich träumte, ich betrete eine schäbige Kneipe, wo eine ältere, am Ende eines langen Tisches sitzende Frau einen der Gäste anstarrte. In diesem Augenblick wusste ich mit der vollen Klarheit, mit der man in den Träumen die Dinge weiß, dass die Frau Witwe war und der Mann ihr dreißig Jahre zuvor verstorbener Ehemann. Ich wusste auch, dass der Mann dieselbe Person der Vergangenheit war, mit der Stimme und dem Alter, das er bei seinem Tod hatte.
    Beim Erwachen stellte ich mir begeistert das Glück vor, das diese ältere Frau empfinden konnte, wenn sie von einem sehr viel jüngeren Mann Liebe und Sex erführe. Dabei war mir egal, ob es ihr Mann war oder nicht. Es erschien mir als ein Akt literarischer Gerechtigkeit, denn in den meisten Erzählungen wird die Gleichung umgedreht. Ich begann zu schreiben, ohne zu wissen, wohin mich die Suche führen würde. Ich hatte keine Vorstellung, was der Ehemann in dieser Kneipe tat, noch warum sein Alter am Nichts hing. Diese dreißig Jahre Trennung – dachte ich – wiederholen irgendwie das Vakuum der dreißig Jahre, die ich außerhalb meines Landes verbrachte, welches ich bei meiner Rückkehr so vorzufinden hoffte, wie ich es verlassen hatte. Ich weiß, das ist eine Illusion, naiv wie alle Illusionen, und vielleicht war es das, was mich anzog, denn die verlorenen Jahre hörten nie auf, mich zu quälen, und wenn ich davon erzähle, wenn ich mir das Leben jedes Tages vorstelle, den ich nicht lebte – dachte ich –, kann ich sie exorzieren. Ich wollte mich an das erinnern, was ich nicht gesehen hatte, das Leben erzählen, das ich jeden Tag geführt hätte, mich um meine Kinder kümmernd, sie liebend, durch die argentinischen Städte streifend, lesend. Ich wollte das Unmögliche, denn ich hätte nicht fern von den Gefolterten, den Entführten, den Sklaven leben können, die auf den Todesfeldern zum Ruhme des Admirals und des Aals schufteten. Ich wollte Wakefield sein, ein aus der Welt Verschwundener, der eines Tages zu seinem alten Haus zurückkehrt, die Tür öffnet und sieht, dass sich nichts verändert hat. Ich wollte wissen, welches Leben das Nichtleben eines Schriftstellers mit Schreibverbot gewesen wäre. Die Fragen ließen mir keine Ruhe, und ich begann sie verzweifelt zu beantworten. Dieser Satz ist für meinen Geschmack zu dramatisch, aber gleichzeitig stimmt er auch. Ich eilte von einer Seite zur nächsten, voller Ungeduld zu erfahren, was folgen würde. Ich schrieb in einem ungeheuerlichen Tempo, das nicht meines ist. Normalerweise brüte ich Stunden über einem einzigen Satz, ja über einem Wort, doch diesmal übertrumpfte ich, fast ohne es zu merken, die Winde in einem Wettlauf mit dem Tod. Wie vorauszusehen war, suchte mich der Tod auf. Ich hatte etwa achtzig Seiten geschrieben, als mich die Krankheit umwarf. In der Klinik sah ich die Dinge anders. Ich dachte an alles, was verschwindet, ohne dass wir es wissen, da wir nur kennen, was es gibt, und nichts wissen über das, was es nie geben wird; ich dachte an das Nichtsein, das ich gewesen wäre, wenn sich meine Eltern Sekunden vor- oder nachher gepaart hätten, um mich zu empfangen, ich dachte an die Bibliotheken voller Bücher, die nie geschrieben wurden (Borges wollte dieses Fehlen in der
Bibliothek von Babel
ergänzen, aber es blieb bei der bloßen Idee, da gibt es weder Knochen noch Fleisch, nur eine großartige, aber leblose Idee), ich dachte an Mozarts Sinfonien, die sein früher Tod auslöschte, an die Melodie, die John Lennon an dem Dezemberabend im Kopf hatte, als er ermordet wurde. Wenn wir die nicht geschriebenen Bücher und die verlorene Musik wiedererlangen könnten, wenn wir uns der Suche nach dem hingäben, was es nicht gegeben hat, und es fänden, dann hätten wir den Tod überwunden. Während ich in

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