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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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ihren Kopf an seine Schulter. Liebkose mich, mein Schatz, liebkose mich, sagt sie.
    Doch Simón spricht von etwas anderem: Als ich fern von dir war, dachte ich, ich würde dich in einer Karte finden. Emilia unterbricht ihn: Es mag dir seltsam erscheinen, aber ich habe dasselbe gedacht. Simón: Ich habe dich in der Karte stehen sehen. Ich wusste nicht, wo du warst, da die Vektoren gelöscht worden waren. Es war eine Wüste ohne Linien. Und Emilia: Dann war es keine Karte. Simón: Vielleicht war es das nicht, aber du warst dort. Und Emilia: Wenn es eine Karte ohne Richtungen war, hättest du eine Namenspur hinterlassen, Bäume als Bezugspunkte zeichnen können. Ich hätte dich gefunden. Einmal, in Mexiko, bin ich einer Linie von weißen Kieseln gefolgt im Glauben, beim letzten würde ich dich sehen, wie im Märchen von Hänsel und Gretel. In Caracas habe ich die Straßen eines ganzen Viertels getauft, um dir eine Orientierung zu geben: Iván der Lügner, Grüne Möse. Zuoberst befand sich ein steiler Platz. Ich habe ihn Simón Yemilia genannt. Die Anwohner dachten, es sei eine Hommage an Simón Bolívar; der habe ich Yemilia angefügt, viele Mädchen in der Gegend heißen so, Yamila, Yajaira, Yamila, aber ich wusste, dass du meine Absicht herausspüren würdest, ich wusste, wenn du dort vorbeigingst oder dir eine neue Karte von Caracas in die Hände fiele, würdest du mich leicht finden können. Warum liebkost du mich nicht?
    Jarretts Musik dreht sich um dieselben Klänge herum, manchmal bleibt sie auf einem einzigen Ton stehen, und draußen hört auch die Nacht auf, sich zu bewegen, nur in Emilia drin kommt und geht das Leben wie im Zentrum eines dunklen Vulkans.
    Sie kann sich nicht erinnern, dass Simón sie einmal so gevögelt hat, wie er sie jetzt vögelt. Ihr Körper glüht, krümmt sich, erhebt sich, damit er bis zur Kehle in sie eindringen kann, sie leckt ihn, verschlingt ihn, und es ist so intensiv, so einhüllend, was sie empfindet, dass über ihre Zunge auch der Schaum der Zunge gleitet, mit der er sie küsst. Emilia hat einen solchen Höhenflug, dass Simóns Feuerwellen tiefer in sie gelangen als ihr Körper, es sind reine Staubfeuer, Flammen, die kommen und gehen, ohne Asche zurückzulassen. Sie weiß nicht mehr, wie oft er zu einem Ende gekommen ist, ausgelaufen ist, sie aufgehört haben, sie gekommen ist, wie das in irgendeiner beliebigen Sprache heißt,
ancora, more, encore, ainda mas,
geh nicht, mein Geliebter, geh nicht. Und so weiter, bis der erste Hauch des Tages durchs Fenster sickert, bis sie nicht mehr kann und sich tränenüberströmt ans Kissen klammert.
    Das Jarrett-Konzert begleitet Emilia die ganze Nacht. Die CD ist zu Ende, ohne dass sie es merkt. Sie kennt die langsamen Kadenzen des Schlusses auswendig, und ebendeshalb geht die Melodie unbemerkt in Stille über. Sie umarmt Simón voller Angst, dass die Wirklichkeit erlischt, so wie die Musik erlischt. Das Zimmer bleibt dunkel, die leichte Helligkeit, die sie beim Erwachen bemerkt hat, verschwindet wieder. Vielleicht sehen wir die Sonne nicht, sagt sie sich. Ein grauschmutziger Tag, wie fast alle in diesem Herbst. Sie weiß nicht, ob sie aufstehen soll oder nicht. Sie lässt sich vom Glück davontragen zu wissen, dass er da schläft, im Zimmer, und dass sie ihn nicht mehr allein lassen wird, um das Leben zwischen den Hammond-Karten zu vertun. Wozu ihn aufwecken? Dieser Körper, der an ihrer Seite liegt, ist die einzige Karte, die sie braucht, um sich in der Zeit zurechtzufinden. Und wenn sie es sich genau überlegt, wozu hat sie die Zeit nötig, wo sich doch die Zeit in sich selbst zusammengefaltet hat und vollständig im geliebten Körper Platz findet? Als sie ausging, um ihn zu suchen, konnte sie sich nicht vorstellen, dass es so viele Terrassen ihres Fegefeuers geben würde, noch dass es, wenn sie zu einer gelangte, immer noch eine höhere und noch eine weitere gäbe. Ihr ewiger Mittag war der eines zeitlosen Fegefeuers.
     
    Jetzt bin ich es, der sich fragt, wohin Emilia gegangen ist. Nancy Frears hat die Polizei angerufen, die begeistert ist, sich in diesem rätsellosen Ort einem Rätsel gegenüber zu sehen. Zwei Beamte und der Chef persönlich haben die Tür in der North Fourth Avenue aufgebrochen, ohne eine Menschenseele zu finden. Das Bett ist gemacht, Bücher und CD s sind eingeräumt, weder die Musikanlage noch der PC sind vom Netz getrennt worden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass jemand eingedrungen ist oder etwas gestohlen

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