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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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hat. Das einzig Auffallende ist, dass Emilia den Müll nicht aus der Küche geschafft hat und es bereits schlecht zu riechen beginnt. Es sind noch Sushireste, ein Algensalat und chinesische Glücksplätzchen auf dem Tisch verstreut. Nancy hat Chela angerufen, doch laut dem Beantworter befinden sich die Herrschaften Echarri außer Landes. Ich habe Emilia als Letzter gesehen, und die Polizei hat mich zu einer Zeugenaussage vorgeladen. Ein dicker Offizier macht sich Notizen von dem, was ich sage, und unterbricht sich ab und zu, um die halbe Pizza zu vertilgen, die in der Kartonschachtel Fett vertrieft. Er will wissen, ob Emilia Selbstmordimpulse gehabt hat, irgendeine unheilbare Krankheit, ob sie eine Reise vorhatte. Die Befragung dauert eine halbe Stunde, und bevor er mir die Aussage zur Unterschrift vorlegt, fragt er, ob ich sonst noch etwas weiß, was ihnen weiterhelfen könnte. Er horcht befremdet auf, als ich ihm erzähle, vor dreißig Jahren seien in meinem Land spurlos Leute verschwunden und einer der Verschwundenen sei Emilias Mann gewesen. Sie habe nie die Hoffnung aufgegeben, ihn zu finden, sage ich, sich nie in die Vorstellung schicken wollen, er könnte tot sein. Was glauben denn Sie?, fragt der Offizier. Ich glaube, er ist tot. Emilia ist nicht die einzige Person, die auf die Rückkehr des geliebten Menschen hofft. Tausende wie sie nähren diese Illusion. Stellen Sie sich die Angst vor, wenn Sie nicht wissen, wo sich Ihre Tochter befindet, wer Ihren Vater verschleppt hat. Und wenn er tot ist, stellen Sie sich die Verzweiflung vor, nicht zu wissen, in welcher Finsternis dieser Welt seine Knochen liegen. Hier ist die Polizei verpflichtet, eine Erklärung zu finden, sagt der Offizier; der Staat bezahlt uns dafür, dass wir sie finden. Es kann sich um ein Verbrechen, eine Entführung, einen Selbstmord im Meer oder eine freiwillige Verbannung im Schutz einer Sekte handeln. Schließen wir Entführung aus, immerhin sind schon mehrere Tage vergangen, und es ist kein Lösegeld gefordert worden. Schließen wir auch aus, dass die Mafiosi sie für ihr Prostituiertennetz oder für Sklavenarbeiten mitgenommen haben – offen gestanden hatte die Señora nicht mehr das Alter dafür. Es gibt auch keine Vorgeschichte oder sonst einen Verdacht, dass sie als Drogenkurierin oder überhaupt im Drogenhandel tätig gewesen wäre. Sie hat ein beispielhaftes Curriculum, ohne Straftaten oder Probleme bei der Arbeit, guten Leumund bei den Nachbarn. Das ergibt alles keinen Sinn, sagt der Beamte. Hier lösen sich die Leute nicht in Luft auf. In einer Woche oder zwei wissen wir, was mit ihnen geschehen ist. Das ist nicht immer so, sage ich. Auf den Milchkartons sehe ich andauernd Fotos von Leuten, die verloren gegangen sind, Kinder, Greise. Die meisten sind Geisteskranke, sagt der Polizist stur. Ich verabschiede mich, lasse auf seinem Schreibtisch eine Visitenkarte liegen und bitte ihn, mich anzurufen, sobald sie etwas herausfinden.
    Am nächsten Tag will mich unbedingt Nancy Frears sehen und bittet mich, sie in ihrer Wohnung in der Montgomery Street aufzusuchen. Kaum bin ich da, wirft sie sich mir an den Hals und bricht in Tränen aus. Wo kann Millie bloß hingegangen sein, die arme Millie? Hast du was erfahren?
    Nichts, sage ich.
    Ich weiß auch nicht viel. Wenn immer möglich gehe ich beim Büro des Polizeichefs vorbei und frage. Die Angestellten wollen nichts sagen, aber hier und dort zeigen sich Einzelheiten. Wärst du eine Frau, würdest du sie auch mitbekommen. Du würdest hören, was man sich beim Friseur erzählt, in der Apotheke, im Jerusalem Pizza. Man hat gesehen, wie sie auf der Straße Selbstgespräche geführt hat, in voller Festmontur. Man hat sie am Samstag im Morgengrauen im Zug nach Newark gesehen. Warum mag sie um diese Zeit unterwegs gewesen sein? Das Auto ist auch noch nicht wieder aufgetaucht. Die Beschreibung des Modells und das Kennzeichen sind an die Mautstationen auf den Autobahnen und die Hotels im Umkreis von zweihundert Meilen geschickt worden. Den Patrouillenfahrzeugen liegen sie natürlich ebenfalls vor. Jeden Moment werden wir etwas erfahren. Sie muss ja essen, schlafen, ein Bad nehmen. Wartest du bitte auf mich? Bin in einer Minute wieder da. Es ist der Magen, die Gase, du weißt schon. Mein verfaulter Magen gibt keine Ruhe.
    Sie bringt eine Mappe mit Zeitungsausschnitten. Emilia hat sie ihr vor einiger Zeit gegeben, damit sie sie aufbewahre, und sie zeigt sie mir, vielleicht erkenne ich ja etwas. Ich

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