Purgatorio
Strümpfe für die armen erfrierenden Kämpfer gewirkt haben. In wenigen Stunden türmt sich ein Berg aus Familienschmuck, Erstkommunionsmedaillen, Eheringen. In den Lebensmittelläden gibt es keine einzige Dose mit Fleischklößchen, Sardinen, Bohnen mehr, alles, was der Ernährung dient, wird hergegeben. »Damit unsere Jungs weiterkämpfen können«, singt Lolita Torres vor den aufmerksamen Kameras.
Emilia geht in einer Prozession mit den Müttern und Gattinnen der Verschwundenen zum Eingang des Senders. Wie alle hat auch sie ein weißes Tuch um den Kopf geschlungen. Sie hofft, ihr Vater möge sie sehen, sie hinauswerfen lassen. Nichts würde ihre Verachtung so mildern wie ein handfester Skandal. Nichts dergleichen wird geschehen – das Einzige, was Dupuy will, ist, seine Tochter vergessen, sie, wie auch immer, zwingen, weit weg zu gehen. Auf der Straße schwenkt die Menge Fähnchen. Auf einem weiteren Foto des großen Studios kann ich Nora Balmaceda ausmachen, obwohl sie nur schwer zu identifizieren ist. Ich habe sie in Illustrierten abgebildet und in zwei Dokumentarfilmen gesehen, das Mündchen immer stark geschminkt und die Augen von Wimperntusche zugekleistert. Aber was sie an diesem Abend ins Fernsehen gebracht hat, sind ihre Trümmer. Sie steht da und kann sich nicht auf den Füßen halten. Ich glaube nicht, dass sie, wie so viele andere, die ich auf dem Foto sehe, hergekommen ist, um ihre Geschichte zu verbergen. Im Gegenteil, sie würde sie liebend gern erzählen, wenn sich die Kameras nur auf sie richteten. Sie würde alles erzählen: ihre ungeschriebenen Romane, ihre Reisen, ihre Liebesaffären mit berühmten Sportlern und dem Admiral. Rechts neben ihr hebt eine ältere Frau ihr zu Boden gefallenes Gebiss auf, ohne die Fahne loszulassen. Wie viel patriotische Inbrunst, wie viel religiöse Glut liegt in dieser Szene. Auf dem letzten Foto tritt ein stark pomadisierter Bote mit glänzenden Schuhen auf Dupuy zu und raunt ihm etwas ins Ohr. Er ist in Zivil und steckt in einem Anzug, der wie geliehen aussieht, woraus allein man leicht erkennen kann, dass es sich um einen Kasernensoldaten handelt. Das Foto besagt, dass es der 21 . Mai 1982 ist, 0.03 Uhr. Der Bote muss Dupuy davon unterrichten, dass die Vorhut der englischen Armee die argentinischen Verteidiger in der Hauptstadt der Insel eingekesselt und die Regierung angeordnet hat, bis auf den letzten Mann Widerstand zu leisten.
Der Krieg dauert noch einige wenige Tage und ist dann zu Ende. Der Präsident zieht sich in sein Büro zurück, um eine Flasche Old Parr nach der anderen zu trinken, und dankt dann ab. Auf die eingebildeten Siege folgt die Trostlosigkeit. »Wir haben eine Schlacht verloren, wir wollen nicht auch noch das Land verlieren«, sagt Dupuy in einem Rundfunkinterview. Als einzige wichtige Figur wagt er es, Farbe zu bekennen. Am selben Nachmittag setzt er sich mit den Kommandanten zusammen, die die Katastrophe überleben, und fragt sie, welches die Bestimmung der Schenkungen des Solidaritätsprogramms sein soll. Ist es viel?, fragen sie. Sehr viel, antwortet er. Fast 60 Millionen Dollar, 140 Kilo Gold, das ich zu Barren einzuschmelzen rate. Es gibt tonnenweise Lebensmittelkonserven, Schokolade, Heiligenbildchen, Briefe für die Soldaten, zwei Hangars, die von warmer Kleidung überquellen. Verdutzt schauen sich die Kommandanten an. Dupuy unterrichtet sie: Fast alles ist Mist, sagt er. Die Schals und die wollenen Westen sind grell bunt und können die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich lenken. Am besten kommt alles in den Müll. Natürlich nicht Gold und Geld. Für alles andere müsste man zwei Herkules-Flugzeuge randvoll beladen, und wir liefen Gefahr, dass sich die Engländer alles schnappen, die Flugzeuge inbegriffen. Was schlagen Sie also vor, Doktor?, fragt einer der Kommandanten. Wie können wir das Gesicht wahren? Wenn sich jemand nach den Gaben erkundigt, sagen wir, wir hätten geschickt, was möglich war, und da sich die Inseln in den Händen der Engländer befänden, wüssten wir nicht, was die mit den Geschenken gemacht hätten. Wir können auch sagen, das Übriggebliebene sei den Reservefonds der Streitkräfte und religiösen Missionen zugeführt worden. In diesem Punkt werden wir nicht lügen. Einen gewissen Prozentsatz müssen wir schon abtreten, wegen der Zweifel. Ebenfalls würde ich empfehlen, diese ganze Operation als Staatsgeheimnis zu behandeln. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Geschichtsbücher über dieses
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