Purgatorio
sehe den Prospekt wieder, die Muster von Stabilene, das Instrument, das die Kartographen vor dreißig Jahren bei sich hatten. Im Prospekt sehe ich, auf einer alten Schreibmaschine abgeschrieben, die »Anleitung für die Ausführung kartographischer Publikationen des Automobilklubs«. Ich halte mich nicht damit auf, es zu lesen, denn die vorhersehbaren Klauseln sind verjährt. Was mich erstaunt, ist das minuziöse handgeschriebene Blatt am Ende, auf dem es dreizehn Quadrate gibt, die sich von einem Hauptquadrat aus wie die Verästelungen eines Baumes auftun. Die Räume sind gefüllt mit schön gezeichneter Druckschrift. In einem lese ich: »Wässerung und Auswahl der blauen Nomenklatur«, und im obersten: »Maßstabgetreue Skizze der Straße 77 bis zum El-Abra-Fluss«. Vermutlich ist es Simóns Schrift, umständlich, in großen, weit auseinanderstehenden Buchstaben. Dass Simón es geschrieben hat, würde erklären, warum Emilia dieses unnütze, vergilbte Papier so viele Jahre gehortet hat. Oder vielleicht behält sie es, weil es die letzte Spur seiner Berührung mit der Welt ist: dieses Blatt, die Fingerabdrücke am Steuerrad des Jeeps, die Skizze des El-Abra-Flusses, die man ihm in Huacra weggenommen hat, die zittrige Unterschrift im Wachbuch. Wenn ich das Papier berühre, spüre ich es beinahe nicht, ich habe das Gefühl, es sei Luft, ich weiß, dass mich die Sinne verlassen, ich weiß, dass ich weniger sehe und nur das höre, was ich will: Kiri te Kanawa in Mozarts c-Moll-Messe, die Stimmen meiner Kinder, Keith Jarretts Klavier, das Raunen des fallenden Schnees.
Ich sage es Nancy nicht, aber manchmal denke ich, auch Emilia seien die Sinne abhanden gekommen und darum sei sie nicht da. Die Sinne filtern unsere Erinnerung, und außerhalb dieser Erinnerung gibt es keine Wirklichkeit. Der Körper betritt eine ewige Gegenwart, durch die eine nach der anderen sämtliche Stationen des Glücks ziehen, welche nicht haben gelebt werden können.
5
Der Preis der Welt
ist nichts als nur ein Hauch
Purgatorio
, 11 . Gesang, Vers 100
I ch klappe die Mappe mit den Ausschnitten auf, die mir Nancy Frears gegeben hat, und stelle fest, dass einige nicht mehr da sind. Ich weiß, dass mir, als ich sie erhielt, Fotos von Emilia zusammen mit ihrem Vater durch die Hände gegangen sind, bei der Beerdigung von Direktor Leopoldo Torre Nilsson und auf dem Galafest, das die Kommandanten für das spanische Königspaar gaben, aber ich bringe das, was ich sehe, mit dem durcheinander, was Emilia mir erzählt hat. In meiner Erinnerung gibt es viele Ameisenstraßen, und alle durchziehen mich zugleich. Ich rufe einen meiner Ärzte an und frage, was diese Momente der Zerstreutheit zu bedeuten hätten. Sobald ich dich untersucht habe, werden wir sehen, ob es einen Grund zur Beunruhigung gibt. Schreibst du an etwas?, fragt er. Ja, sage ich, an einem Roman. Dann pass auf dich auf. Was dich krank macht, das ist die Phantasie. Ich fahre nach Hause zurück und beginne die Papiere und Aufzeichnungen durchzusehen, die ich an mich genommen habe.
Ich fange am Ende an, bei dem Foto von Dr.Dupuy, das während des vierundzwanzigstündigen Benefizprogramms für die auf den Falklandinseln kämpfenden Soldaten im Hauptsendesaal von Canal 7 aufgenommen wurde. In der linken oberen Ecke stehen ein Datum, 20 . Mai 1982 , und eine Uhrzeit, 23.12 . Aus der Entfernung sieht Emilia ihren Vater kommen. Ich habe den Eindruck, sie kehrt ihm jeden Augenblick den Rücken zu. Es fällt ihr schwer, die Feindseligkeit, den Widerwillen zu verbergen. Seit über drei Jahren wohnen sie nicht mehr unter einem Dach, und ich weiß, dass Emilia Buenos Aires verlassen hätte, wenn nicht weiterhin eine täglich dünner werdende Nabelschnur sie an die Mutter gebunden hätte, deren Körper nur noch ein Hauch ist. Bei den Daten bin ich mir nicht ganz im Klaren, aber ich glaube mich zu erinnern, dass Ethel Dupuy kurz danach starb – sie ging genauso unbemerkt von der Welt, wie sie auf sie gekommen war. Emilia hat mir erzählt, dass sie in einer fast geheimen Zeremonie eingeäschert wurde und dass sie selbst, »ich allein und meine Seele«, die Asche in den Río de la Plata streute, dessen Wassermenge vor lauter Toten anschwoll.
Auf dem Foto sieht man die Aufnahmeleiter im Hintergrund, nachdenklich auf wackeligen Plastikstühlen sitzend. Vermutlich hält sie der Patriotismus wach, den die Diktatur bei den Menschen wieder entfacht hat, um das Elend, die Inflation, das Gefühl unmittelbar
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