Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
geworfen, und jetzt? Sie sagte nichts, sie tat nichts. Ihr leerer Blick wirkte, als wäre sie nicht hier, sondern sehr weit weg.
Einmal, in Antwerpen, hatte Mirijam die Irren aus dem Tollhaus der Barmherzigen Schwestern gesehen. Sie hatten ihre Seelen verloren, hatte man ihr erklärt. Jene jammervollen Gestalten hatten den gleichen leeren Blick gehabt wie jetzt Lucia. Was für ein Gedanke! Entsetzt schlug Mirijam die Hände vor den Mund. Sicher waren es nur Lucias schwache Nerven, wie der argousin sich ausgedrückt hatte. Mirijam schloss die Schwester fester in die Arme. Trost und Wärme und das Gefühl, nicht allein zu sein, war alles, was sie ihr geben konnte. Hatte der Zahlmeister eine Situation wie diese gemeint, als er sagte, Mirijam müsse schnell erwachsen werden?
Die gefesselten Matrosen der Palomina kauerten mit hängenden Köpfen an den Feuern. Kapitän Nieuwer hingegen stand an einer abseits gelegenen Feuerstelle, wo er seine Kleider einem der Piraten reichte, der sie für ihn ausschüttelte und in der Nähe der Flammen zum Trocknen ausbreitete. Ein Pirat als Diener eines feindlichen Kapitäns, welcher zudem keine Fesseln trug?
Mirijam wollte ihren Augen nicht trauen. Das konnte doch nur eines bedeuten! Aufgeregt packte sie Lucia am Arm. » Schau, dort, Kapitän Nieuwer, siehst du ihn? Er bewegt sich ungehindert zwischen den Seeräubern. Also ist er nicht zufällig oder wegen einer günstigeren Route unter den berüchtigten Inseln gesegelt, oh nein. Verstehst du, was das bedeutet? Er macht mit den Korsaren gemeinsame Sache!« Fast hätte sie ihre Erkenntnis laut herausgeschrien.
Als hätte er ihre Worte vernommen, schaute der Kapitän in diesem Augenblick zu den Mädchen hinüber. Wie ertappt senkte er jedoch sogleich wieder die Augen.
Mirijam ballte die Fäuste. Ihre Augen funkelten vor Empörung. Der Kapitän, vom Vater persönlich für diese Fahrt ausgewählt, war ein Spießgeselle der Seeräuber! Oh, wäre sie doch bloß ein Mann! Dann würde er ihre Wut zu spüren bekommen, und sie würde ihm seine Heimtücke vergelten, würde es ihm heimzahlen, diesem Verräter! Ihre Blicke saugten sich an dem Kapitän fest. Er sollte wissen, dass sie, Mirijam van de Meulen, Tochter seines Brotherrn, ihn durchschaut hatte.
Schon früher hatte sie hin und wieder von unfähigen und auch von gewissenlosen Kapitänen erzählen gehört, doch niemals hätte sie geglaubt, dass so jemand in Vaters Diensten stehen könnte! Wie hoch mochte wohl seine Entlohnung für diesen Verrat sein? Immerhin gehörten zwei Handelsschiffe zu der Beute, beide bis obenhin vollgestopft mit kostbarer Fracht. Vermutlich würde sein Anteil aus dem Kapitän einen reichen Mann machen. In ohnmächtigem Zorn ballte sie die Fäuste.
Aus den Dünen erklangen Rufe, die von den Wachposten erwidert wurden, und bald darauf tauchten Männer in Kapuzenmänteln aus dem Dunkel auf. Sie kamen einen Pfad herunter und brachten auf Packpferden Brot, Trockenfleisch und mit Trinkwasser gefüllte Tonkrüge zum Strand.
» Möchtest du etwas essen?«, fragte Mirijam, als sie sah, dass anscheinend alle, die Gefangenen wie die Piraten, eine Ration bekamen. Lucia hob nicht einmal den Kopf. Bekam sie denn überhaupt nichts von dem mit, was hier vorging?
Ein bärtiger Mann in roter Weste und mit einem schmierigen roten Tuch als Turban trat zu ihnen und reichte ihnen ein Stück Brot und eine Schale mit Wasser. Als er sich die beiden Mädchen genauer besah, schnalzte er mit der Zunge und knurrte etwas in seinen Bart. Dann teilte er ihnen die doppelte Ration zu.
Mitleid, von einem wie dem? Bildete sich der Kerl etwa ein, mit einem Stück Brot ihre Vergebung erkaufen zu können? Ha, da konnte er lange warten! Mirijam schaute auf das Brot in ihren zitternden Händen, und plötzlich liefen ihr Tränen über das Gesicht. Sie barg den Kopf in der Armbeuge. Alles tat ihr weh, und sie fürchtete sich so sehr, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Wenn sie den Kopf hob, fiel ihr Blick auf Kapitän Nieuwer. Das Blut der eigenen Leute klebte an seinen Händen, dennoch biss er herzhaft in sein Brot. Ihr hingegen war elend zumute, und schon der Gedanke an Essen widerte sie an. Der gute Vancleef hatte sich gründlich geirrt, sie fühlte sich ganz und gar nicht stark!
Ausnahmslos alle Piraten trugen etwas Rotes an ihrer Kleidung. Neben faltenreichen Pluderhosen aus dunkelrotem Stoff gab es rote Westen mit allerlei glänzenden Borten, während andere sich rote Tücher um den
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