Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
schaffen wir es vor dem Abendgebet nicht bis zur nächsten Herberge. Und hier draußen in der Wüste, wo wir Kälte, Regen und zu dieser Jahreszeit vielleicht sogar Schnee schutzlos ausgesetzt sind, werden wir keinesfalls die Nacht verbringen. Dazu bin ich zu alt.« Auffordernd hielt er ihr das kleine Kügelchen hin.
Sie wusste, es blieb ihr nichts anderes übrig. An Flucht, das war ihr inzwischen klar geworden, an Flucht war sowieso nicht zu denken. Bei ihrem Vorhaben hatte sie nämlich etwas Wesentliches außer Acht gelassen: Wo in der großen Stadt Algier mit ihren unzähligen Häusern sollte sie Lucia suchen, um mit ihr fliehen zu können? An wen konnte sie sich wenden, ohne Stimme und ohne Sprache? Natürlich würde sie sie suchen, und sie würde sie auch finden und gemeinsam mit ihr dieses Land verlassen, aber erst später, wenn sie sich erholt hatte und wieder sprechen konnte. Sie zwinkerte ihre Tränen fort und legte folgsam die braune Arzneikugel unter die Zunge.
Der Alte hatte sie beobachtet und versucht, ihre finstere Miene zu deuten. Als sie endlich die Pille in den Mund steckte, lächelte er zufrieden. Dann hob er sie auf den Esel, band den Führstrick am Sattel seines Pferdes fest, und sie setzten ihren Weg fort.
Sherif Hakim hing seinen Gedanken nach. Brutale Gewalt und schlimmste Gemeinheit waren in sämtlichen Kerkern verbreitet, sie machten noch nicht einmal vor einem so zarten Menschenwesen wie dieser Kleinen halt. Wie häufig hatte er schon Geschundenen geholfen, auch solchen, die im bagno von Al-Djesaïr malträtiert worden waren. Und oft hatte er dabei gespürt, dass Allah, der allwissende Gott, ihm nicht zufällig diesen Platz im Leben zugewiesen hatte, auf dem er nun schon seit langen Jahren stand. Menschen zu helfen und sie zu heilen war für ihn nicht allein Pflicht oder lobenswertes Handeln, es war Gesetz.
Er schaute nach hinten und sah, dass sich seine neue Sklavin halb betäubt an der Mähne des Esels festklammerte und bei jedem Schritt des Tieres hin- und herschaukelte. Aber sie schien recht zäh zu sein. Irgendwie erinnerte sie ihn an jemanden, es wollte ihm jedoch nicht einfallen, an wen. Ja, sinnierte er, alles war vorherbestimmt. Und alles hatte seinen Sinn, selbst wenn der sich nicht auf den ersten Blick erschloss.
In seinem früheren Leben, als er noch der Christ Giuseppe Ferruci gewesen war, hatte er nach dem Medizinstudium in Bologna die Heilkunst nicht allein in den Häusern der vornehmen Familien seiner Heimatstadt Genua ausgeübt. Auch in den Elendsvierteln und am Hafen hatte er Wunden und Seuchen aller Art behandelt. Viel, eigentlich das meiste seiner Profession hatte er damals bei den Ärmsten der Armen gelernt.
Wieder schaute er nach der neuen Sklavin. An wen erinnerte sie ihn nur? Ach, das würde ihm schon zur rechten Zeit einfallen. Vielleicht hatte er wegen ebendieser unklaren Erinnerung dem Impuls nachgegeben, das Kind zu kaufen, grübelte er, denn wirklich nötig war sie für seinen Haushalt nicht, egal wie seine Köchin das sah. Andererseits hatte er längst gelernt, deren Wünsche zu erfüllen, denn nicht umsonst nannte er sie » Signora«, seine Herrin. Er lächelte belustigt, als ihm ihr strenges Regiment über Diener, Burg und Haushalt einfiel.
Er versuchte, sich zu entsinnen, wie es ihm selbst seinerzeit ergangen war, als man ihn in die Sklaverei verschleppt hatte. Eines Tages war auf der Reise nach Sizilien sein Schiff überfallen und alle an Bord als Sklaven verkauft worden. Er hatte noch großes Glück gehabt. Dank seines Berufes entging er einem Schicksal als Galeerensklave, denn an guten Ärzten mangelte es dem Pascha von Al-Djesaïr, wie die Korsaren ihre Stadt, die ein berüchtigter Schlupfwinkel hier an der Barbareskenküste war, nannten. Heilkundige fehlten überall, sowohl auf den Schiffen wie auch an Land, und krank wurde Freund wie Feind. Viele Menschen verdankten ihm inzwischen das Leben, darunter auch der älteste Sohn des Paschas. Eine heftige Fieberattacke war das damals gewesen, erinnerte er sich, allerdings ziemlich leicht zu heilen, wenn man über die richtige Arznei verfügte und besonders wenn der Kranke so kräftig war wie der Junge. Und als er – wie viele andere Christen – zum Islam konvertiert und ein freier Mann geworden war, hatte ihm der Pascha, der oberste Herr der Barbaresken, als Dank für die Errettung seines Sohnes die Burg mitsamt der ertragreichen Oase von Tadakilt in der großen Wüste überschrieben.
Dort lebte es
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