Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
beobachtete ihn oft. In Antwerpen hatte sie zwar schon dunkelhäutige Männer gesehen, jedoch nie aus solcher Nähe. Zunächst war ihr der Schwarze deshalb unheimlich gewesen, sein ansteckendes Lachen aber tat gut und tröstete.
Jeden Morgen bei Reiseantritt gab der Hakim Mirijam eine der dunklen Kugeln, die die Schmerzen tatsächlich erträglich und das Reiten überhaupt erst möglich machten. Abends brachte er ihr persönlich etwas zu essen und sorgte dafür, dass sie sich früh zum Schlafen niederlegte. Es kam ihr ein wenig so vor, als würde sie von einem Vater umsorgt.
Sie übernachteten in Karawansereien, jenen geschützten Rastplätzen für Handelskarawanen und andere Reisende. Hier gab es Brunnen mit frischem Wasser und Futter für die Tiere, die Menschen fanden abschließbare Lager für ihre Waren sowie geschützte Räume zum Übernachten, und man konnte ein reichliches Abendessen erwarten.
Obwohl man ihr einen Strohsack in einem Schlafraum für Frauen angeboten hatte, schlief Mirijam lieber draußen im Hof in der Nähe der Tiere, dort fühlte sie sich beinahe frei. Besonders die Eselin, auf deren Rücken sie ritt, hatte es ihr angetan. Sie war zwar struppig, und das Fell staubte, wenn man ihr den Hals klopfte, aber sie hatte wunderschöne, dunkle Augen und ein sanftes Wesen. Chekaoui fütterte das Tier und versorgte es mit Wasser, wie die anderen Tiere auch. Mirijam hingegen streichelte sein Fell und kraulte die Mähne zwischen den Ohren. Dann stand die kleine Stute immer ganz still, sie schien die Berührung zu genießen. Wenn sich Mirijam auf dem Lager dicht neben den kleinen Eselsfüßen ausstreckte, fühlte sie sich seltsam geborgen. Solange sie auf einem ordentlichen Haufen Stroh neben ihrem Eselchen liegen konnte, fror sie nicht und fühlte sich auch nicht allein. Noch nie zuvor hatte sie so viele und so große Sterne wie in diesen wolkenlosen Nächten gesehen. Immer wieder betrachtete sie die funkelnden und blinkenden Lichter hoch über sich, manche groß und nah, andere klein und weit entfernt. Es waren diese kurzen Momente, in denen sie sich wirklich wach fühlte, tagsüber hingegen bewegte sie sich in einer Art Dämmerzustand, was, wie der Hakim ihr jeden Morgen aufs Neue erklärte, von den kleinen braunen Arzneikügelchen herrührte.
Eines Morgens sagte Sherif Hakim: » Weißt du eigentlich, welcher Tag heute ist? Auf der ganzen Welt feiert man den Tag der Geburt des Propheten Isa mit Liedern und Gottesdiensten, mit Geschenken und viel gutem Essen.« Langsam begriff Mirijam, was der Alte meinte: Heute war Weihnachten, das große Fest der Christen. Für sie als Jüdin hatte dieses Fest allerdings eine andere Bedeutung, als Sherif Hakim annahm.
Sie hatte Weihnachten immer geliebt, obgleich sie nicht mit den anderen in die Kirche gehen durfte. Aber schon Tage vorher wurde das ganze Haus auf den Kopf gestellt und groß geputzt, gebacken und gekocht, weil Gesa zum Fest immer besonders feine Speisen zubereiten wollte. Dann gab es im Ofen gebackene Äpfel, dick mit Honig überzogen, und heißen Hagebuttentee. Das ganze Haus duftete wunderbar nach dem Bienenwachs, mit dem Gesa die Möbel polierte, nach Lebkuchen und Zuckerwerk … Und überall in der Stadt läuteten die Glocken. Nach der Christmesse saßen die Freunde ihres Vaters in der Stube und tranken heißen Punsch.
Das Wichtigste aber war, dass jedes Jahr um Christi Geburt der Winter mit Frost und Eis nach Antwerpen kam. Er überzog alles mit glitzerndem Schnee, bedeckte die überfluteten Wiesen mit Eis, und die Kinder rutschten und schlitterten den lieben langen Tag draußen in der kalten Winterluft. Auch sie war über das Eis geglitten, mit Cornelisz an der Seite. Und sie waren schneller als der Wind gewesen! Er hatte ihr gezeigt, wie sie die Füße setzen und sich Schwung geben konnte, und an seiner Hand hatte sie sich sicher gefühlt. Seine Locken waren dann mit einer feinen Reifschicht bedeckt gewesen, und abends waren sie durchgefroren nach Hause gekommen. Mirijam seufzte tief auf, doch der Druck auf der Brust blieb. Heute war also das Weihnachtsfest.
Dann waren sie vor zwei Monaten von zu Hause abgefahren! Zwei Monate erst? Das war keine lange Zeit, gemessen daran, was inzwischen passiert war. Der Alte mochte es gut gemeint haben, als er von Weihnachten sprach, Mirijam aber fühlte das Verlorene deutlicher als an den Tagen zuvor.
Immer südlicher führte sie ihr Weg, und das kühle Winterwetter blieb zurück, je tiefer sie in die
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