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Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln

Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln

Titel: Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Cramer
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ihn beinahe die väterliche Liebe, die er für sie empfand. Er seufzte.
    » Komm in den Garten, Kleines«, sagte der Hakim leise und ging voraus. » Ich habe dir etwas zu sagen.«
    Im Licht der Laternen glänzten die Wedel der Palmen. Sie warfen fedrige Schatten auf den Fliesenboden, und zu ihren Füßen murmelte leise der Springbrunnen. Hier, an diesem Ort voll Ruhe und Harmonie, musste der alte Arzt sämtliche Hoffnungen zerstören, die in den letzten Wochen in Mirijams Herz herangewachsen waren.
    » Allah, der Allwissende, oder, wenn dir das lieber ist, Gott der Herr, hat deine Schwester Lucia zu sich genommen.« Er räusperte sich. » Ich habe mich umgehört und aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass sie seinerzeit tatsächlich in den Harem des Paschas verkauft wurde. Dort aber bekam sie alsbald ein schweres Fieber.«
    Er hob Mirijams Gesicht an. » Weine ruhig, mein Kind«, sagte er mit vor Mitgefühl rauer Stimme, » weinen heilt die Seele. Viele vertragen die Hitze nicht, besonders die Menschen des Nordens, oder es quält sie das Heimweh. So war es wohl auch bei deiner Schwester. Man hat mir gesagt, ihr Ende kam schnell, sie musste nicht lange leiden.« Seine Stimme verklang.
    Der alte Arzt versuchte nicht, Mirijam mit Versprechungen über das Leben nach dem Tode oder die Freuden des Himmels zu trösten, sei es des islamischen oder des christlichen Himmels. Stattdessen zog er sie an die Brust, wiegte sie in seinen Armen und strich über ihr Haar. » Außerdem erfuhr ich, dass es keinerlei Anfragen aus Antwerpen oder von sonst woher gab«, ergänzte er nach einer Weile. » Lass es mich klar und deutlich sagen, mein Kind: Niemand hat sich nach euch erkundigt, keiner eure Namen genannt, und niemand wollte wissen, ob eure Spuren, die deinen und die deiner Schwester, womöglich nach Algier führten.«
    Er hielt sie immer noch an sich gedrückt und strich ihr weiter tröstend über den Kopf.
    Von den verwirrenden Gerüchten über ihren Onkel, den jüdischen Advocaten, der in Mirijams Heimatstadt auf geradezu mysteriöse Weise zu immensem Reichtum gekommen sein sollte, sprach er nicht. Es gab keine konkreten Anhaltspunkte für ein unredliches Handeln von dessen Seite, lediglich Andeutungen und Vermutungen. Also war es besser zu schweigen.
    Außerdem, hätte er ihr allen Ernstes ausgerechnet jetzt erklären sollen, dass ihr letzter Verwandter mit ziemlicher Sicherheit ein verbrecherisches Spiel spielte?

22
    Nachdenklich, mit auf dem Rücken verschränkten Händen, spazierte der alte Arzt auf den verschlungenen Wegen des Gartens. Dieses Kind, das Allah ihm gesandt hatte, war mit seinen vierzehn Jahren vom Schicksal unverhältnismäßig hart angepackt worden, und doch gab die Kleine nicht auf. Sie war zäh, sie kämpfte und ließ sich nicht unterkriegen. Welche Bedeutung Azîza für ihn mittlerweile bekommen hatte, das war ihm während der Reise aufgegangen. Er hatte sie vermisst, denn immer wieder waren ihm unterwegs Dinge begegnet, auf die er sie gern hingewiesen und deren Besonderheiten er ihr gerne erklärt hätte. Sie bereitete ihm viel Freude.
    Unter dem Feigenbaum blieb er stehen und sog dessen unvergleichlichen Duft in sich ein. Freude? Das war nicht ganz ehrlich. Genau genommen hatte er Azîza von ganzem Herzen lieb gewonnen, gerade so, als sei sie sein eigenes Kind! Verstohlen wischte er ein paar Tränen fort, die ihm vor Rührung in die Augen stiegen. Letztens erst war ihm klar geworden, wem die Kleine ähnelte: Elisabetta, seiner Kinderfreundin aus der Nachbarschaft in Genua. Lag es an den schwarzen Locken, der Lebhaftigkeit oder vielleicht doch eher am Wissensdurst? Jedenfalls hätten Elisabetta und seine kleine Azîza Schwestern sein können. Auch Elisabetta hatte ihn immer mit Fragen bestürmt. Wenn er zum Beispiel vom Unterricht bei den Patres heimkam, erwartete sie ihn schon und steckte die Nase in seine Bücher, anstatt ihrer Mutter zur Hand zu gehen. Sie lernte leicht, manche Dinge begriff sie schneller als er. Außerdem war sie immer fröhlich und zu Späßen aufgelegt. Aber er konnte mit ihr ebenso gut diskutieren, denn sie hatte durchaus ihren eigenen Kopf. Was wohl aus ihr geworden war? Ob ihr ein zufriedenes und erfülltes Leben, vielleicht an der Seite eines klugen Mannes und im Kreise einer großen Familie beschieden war? Oder hatte sie harte Schicksalsschläge wie die Kleine hier zu ertragen?
    Wenn es ihm doch nur endlich gelänge, das Kind von seiner Sprachlosigkeit zu heilen, wenn ihm

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