Purpur ist die Freiheit 02 - Die Perlen der Wueste
vom Schlage eines Capello als gelegenes Opfer erscheinen. Doch anstatt sie überhaupt erst gar nicht zu ihm gehen zu lassen, hatte sie ihr nur halbherzig Hilfe angeboten! Rebecca rannte nun beinahe.
Sie musste ihr Versäumnis wiedergutmachen, musste diese Sarah de Álvarez suchen und ihr helfen, sie zumindest warnen. Vorher würde sie keinen Frieden finden.
Rasch lief sie über einen dunklen campo, durchquerte eine stinkende Gasse, sprang über ein Rinnsal und bog um eine Ecke, nur um wieder vor einem Kanal zu stehen. Weiter vorn gab es einen schwankenden Steg nach San Leonardo hinüber, der selten und eher zufällig kontrolliert wurde und den sie daher – ungesehen, wie sie hoffte – überqueren konnte. Damit lag das Ghetto hinter ihr. Selbst bei Nacht kannte sich Rebecca gut in den benachbarten Vierteln aus. Sie eilte weiter.
Endlich kam Ca’ Capello in Sichtweite. Rebecca blieb stehen. Der alte Palazzo sah friedlich aus, als ob alle Bewohner in gerechtem Schlaf lagen. Was nun? Darüber hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Sollte sie klopfen und nach Sarah fragen? Mit welcher Begründung, noch dazu bei nachtschlafender Zeit? Ratlos blickte Rebecca Sarfatti den Kanal hinauf und hinunter. Feiner Nebel stieg über der kleinen Wasserstraße auf, das Wetter schlug um, stellte sie fest.
Plötzlich vernahm sie das schleifende Geräusch einer Tür, die über Bodenfliesen schrammte. Es kam unzweifelhaft vom Palazzo Capello. Hastig duckte sie sich hinter der efeubewachsenen Außentreppe des Nachbarhauses und lugte durch das Geäst.
Ein Mann mit einem Seesack in der Hand trat einen Schritt hinaus auf die calle, sah sich nach allen Seiten um und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Dann stemmte er seine Linke in die Hüfte, schulterte den Seesack und kam die Gasse entlang, direkt auf Rebecca zu. Das musste Kapitän Capello sein …
Rebecca riss ihre leuchtend weiße Haube vom Kopf und kroch so weit zwischen die Efeuranken, wie es ging. Sie hielt den Atem an. Mit geschlossenen Augen und auf den Mund gepresster Hand wartete sie, dass der Mann näher kam und sie entdeckte.
*
Tränen rannen über ihr Gesicht, Sarah aber achtete nicht darauf. Puttana, dröhnte es in ihrem Kopf, Marino hatte sie eine Hure genannt. Sie rannte, ohne auf die Richtung zu achten. Immer weiter lief sie, eine Hand vor dem Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Sie folgte einem Kanal, überquerte ihn, bog um eine Ecke, dann um eine weitere, stieß erneut auf einen Kanal, der ihr eine andere Richtung aufzwang. Aber was tat das schon, solange der Weg nur wegführte vom Palazzo Capello. Sie lief weiter. Allmählich aber ging ihr die Luft aus, und sie verlangsamte ihren Schritt.
Ein Strahl des Mondlichts drang durch die Wolken. Er schien über das Wasser zu wandern, über das Ufer, und erst zu ihren Füßen endete er. Sarah blieb stehen. Wollte er ihr den Weg weisen? Vielleicht sollte sie ihm folgen und ins Wasser gehen?
Sarah ging weiter. Ihre Füße bewegten sich wie von selbst. Undeutlich hörte sie Yasmînas Schritte hinter sich. Sie folgte ihr, doch zum Glück sprach sie sie nicht an. Sie hätte ihr nicht in die Augen schauen können, dieser Zeugin ihrer fürchterlichsten Demütigung. Wie konnte sie überhaupt jemals wieder jemandem in die Augen sehen? Gequält stöhnte sie auf, und neue Tränen liefen über ihre Wangen. Doch war es nicht die Erniedrigung allein, die so furchtbar schmerzte. Noch schrecklicher war die Erkenntnis, dass sie für Marino ein Nichts gewesen war, ein Spielzeug, jedenfalls kein Mensch mit Empfindungen und Träumen. Wo war seine Liebe geblieben, oder hatte es sie nie gegeben? War sie nicht anziehend, nicht raffiniert und gebildet genug? Vielleicht hatte er sie von Anfang an nur angelogen.
Plötzlich fiel ihr ein, wie er ihr das geheime Purpurrezept abgeschwatzt hatte, angeblich als Unterpfand ihres Vertrauens. Dabei handelte es sich um Mutters wichtigstes Wissen, genau genommen um die Grundlage ihrer Arbeit, ihrer Manufaktur. Mutter … Sie hatte sie gewarnt. Was gäbe sie darum, sich jetzt in ihre Arme flüchten zu können und sich von ihr trösten zu lassen. Ob die Eltern sie suchten? Vielleicht fanden sie ja ihre Spur und tauchten schon bald in Venedig auf.
Je mehr sie versuchte, einen ihrer Gedanken festzuhalten, desto ungeordneter wirbelten sie durcheinander. Hatte er sie wirklich Hure genannt? Und hatte er tatsächlich allen Ernstes gesagt, sie habe sich ihm an den Hals geworfen? Wer hatte ihr denn mit
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