Purpurdämmern (German Edition)
freundlicher, leicht seniler alter Landstreicher. So weit entsprach er dem Großvater-Klischee mächtiger Zaubermeister. Nur die stechend schwarzen Augen, die passten nicht zu seiner Erscheinung. Sie weckten die Vorstellung eines energiegeladenen, chaosliebenden Geistes, der sich in einem zerbrechlichen Körper versteckte. »Und jetzt Junge, mach, dass du aus meinem Bad kommst. Ich habe das Bedürfnis nach etwas Privatsphäre.«
»Ja, Sir.« Rasch bückte er sich nach seinem Kleiderhaufen. Jetzt rannen ihm die fiesen kleinen Schmerzen auch das Rückgrat hinauf. »Natürlich, Sir, tut mir leid.«
»Wenigstens hast du Manieren«, grummelte Umo. »Hast du denn schon deinen Vater begrüßt?«
»Meinen was?« Er erstarrte mitten in der Bewegung.
»Deinen Vater drüben im Apfelhain.« Der Buchstabensammler schürzte die ledrigen Lippen. »Mich wundert nur, dass du nicht früher aufgetaucht bist. Was hat dich so lange aufgehalten?«
Langsam, sehr langsam richtete Ken sich auf, den Haufen feuchter Klamotten an sich gepresst. Seine Fingerspitzen kribbelten, Blut rauschte ihm in den Schläfen. Er hatte das Gefühl, sich stundenlang auf einem Bürostuhl im Kreis gedreht zu haben. »Mein Vater ist Randall O’Neill, Sir, und der lebt in einer anderen Welt.« Im wahrsten Sinne des Wortes.
»Nun, einen Randall O’Neill kenne ich nicht, aber Coinneach, den Prinzen der Tuatha Avalâín, kenne ich sehr wohl, und wenn ich mir dein Gesicht so ansehe, Junge, dann wundert’s mich, dass es nicht längst die Spatzen von den Dächern pfeifen.« Er trat an Ken vorbei vor einen schmalen Schrank neben der Dusche, wühlte darin herum und summte dabei eine Melodie. »Andererseits, wahrscheinlich tun sie das, ich habe es nur nicht gehört. Ich gebe nicht viel auf Geschwätz. Du bist ja immer noch da? Verschwinde endlich, hörst du nicht?«
Wie betäubt tappte Ken zur Tür. Er blieb wieder stehen. Coinneach, der Penner mit Moms Medaillon? »Aber ich verstehe nicht, wie das …«
»Raus!«, schrie der Alte und knallte ihm vor der Nase die Tür zu. Ein paar Sekunden später rauschte Wasser.
Ken ließ das Handtuch fallen und starrte Ewigkeiten auf einen Fleck im polierten Holz, bevor er in seine Sachen schlüpfte. In seinem Kopf kreiselte ein Kettenkarussell. Barfuß, in Jeans und T-Shirt, setzte er sich auf den Boden und wartete, dass der Buchstabensammler wieder auftauchte. Aber der alte Mann ließ sich nicht blicken. Nur das Wasser plätscherte, und ab und an drangen die schief gesungenen Silben einer Melodie nach draußen.
»Hey«, Marielle pflückte Nessa vom Fensterbrett und setzte sie sich auf die Knie, »stimmt es, was der Buchstabensammler sagt? Mit der Flüster-Akelei?«
Die Abendsonne schien schräg durch die Fensterbänder und malte lange goldene Streifen auf den Boden. Zwischen einem Stapel Pappkartons am anderen Ende des Lofts rumorten die Kätzchen, doch Marielle vertraute darauf, dass sie sich nicht zu weit von ihrer Schlafdecke mit dem Futter entfernten und clever genug waren, sich nicht versehentlich in den Tod zu stürzen. Mittlerweile kannten sie sich ja hier aus.
Ich bin mir nicht sicher.
Die Purpurkatze zuckte mit den Ohren, ein Zeichen, dass die Frage sie kalt erwischte. Es war ihr immer furchtbar peinlich, wenn sie etwas nicht wusste.
Normalerweise fand Marielle das lustig, aber jetzt war sie zu angespannt, um Witze darüber zu reißen. »Hast du schon mal vom Imperium der Kjer gehört?«
Nessa gab ein vages Maunzen von sich.
»Santino hat es einmal erwähnt.« Sie wühlte ihre Hände in Nessas weiches Fell. »Aber wenn ich ihn frage, erzählt er mir nichts. Wieso sagt mir nie jemand was?«
Weil Wissen gefährlich sein kann. Oder schmerzhaft. Und weil alle nur dein Bestes wollen.
»Mein Bestes?« Sie hasste es, wenn Nessa die gleiche Leier anschlug wie Amalia. »So wie mein Vater, der mich mit diesem Hefeteig verheiraten will? Ich bin kein Kind mehr.«
Dann solltest du aufhören, dich wie eins zu benehmen.
Sie starrte Nessa in die gelben Pupillen. Der Schwanz pendelte hin und her, die Spitze ein goldgelbes Zittern. »Und du lenkst schon wieder vom Thema ab. Du wolltest mir von den Kjer erzählen. Du musst doch davon gehört haben, wenn du im Rabenfächer geboren bist!«
»Ist sie aber nicht«, erklang Santinos Stimme hinter ihr. Sie drehte den Kopf. Er schlenderte von der Treppe her auf sie zu, auf seinem Arm ein Kätzchen, das sich in seine Handfläche schmiegte.
Nessa fauchte.
Hör nicht auf
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