Purpurdämmern (German Edition)
Habseligkeiten bepackt und wolltest dich gerade aus dem Staub machen, was? Bevor hier alles zusammenbricht? Aber das Portal ist dir explodiert und nun –« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.
»Was kümmert es dich?«, fuhr Rupertin ihn an.
»Nun sitzt du fest.«
»Ich finde einen Weg.«
»Ja?«
»Der Riss wird breiter, hast du gesehen? Ein Tag noch, dann reicht er zum Fluss herunter.« Rupertin senkte die Stimme. »Es gibt einen Weg, aber dafür muss ich meine Pferdchen zu Kräften kriegen. Ich gehe direkt durch den Riss, durch die Tunnel der Kjer. Die Kelpies können das schaffen. Also gib mir die Kleine, ich nehme dich mit und überlasse dir obendrein die Hälfte der Kätzchen.«
Marielle blieb die Luft im Hals stecken.
»Ich hätte einen besseren Vorschlag«, sagte Ken. Er hielt ein Stück Papier hoch, das genauso aussah wie die Buchseite, mit der sie sich zuvor schon die Gunst der Ojibwe-Indianer erkauft hatten. Sein Blick verriet nicht, ob er bluffte oder ob er wusste, was er tat. »Ich gebe dir das hier, und du bringst uns zum Depot auf die andere Seite des Flusses.«
»Und gibst uns die Purpurkätzchen«, fiel sie schnell ein. Hatte Aan’aawenh nicht gesagt, es sei eine sehr kostbare Gabe? Einen Versuch war es wert. »Alle Kätzchen!«
Rupertin runzelte die Stirn. »Was ist das?«
Ken trat näher. »Nicht anfassen.«
»Wo hast du das her?«
»Willst du es nun, oder nicht?«
Der Blick des Händlers zuckte zurück zu Santino. »Meint er das ernst?«
Marielle kniff die Augen zusammen, um das Symbol zu lesen, das auf die Seite gemalt war. Ein stilisierter Baum, daneben ein Gedicht. Am Eingang zum Ojibwe-Dorf hatte sie nicht darauf geachtet, weil sie wütend gewesen war. Aber nun interessierte es sie doch, was das für Papierstückchen waren, dass selbst Rupertin die Gier aus den Augen sprang.
Ein kleiner Riss spaltete den Stamm an der Wurzel in zwei Hälften. Und plötzlich begriff sie. Aan’aawenh hatte recht, es
war
kostbar. Wenn es nicht wie das Portal in den Rabenfächer explodierte, sobald man Energie ins Gewebe schickte. Sarrakhan, sie hatte darüber gelesen, aber nie selbst eine in der Hand gehalten. Wie war Ken an diese Seiten gekommen?
»Reiß das Gedicht ab«, sagte sie. Ganz ruhig, ohne die Stimme zu erheben.
»Was?« Verunsicherung huschte über Kens Gesicht.
»Mach schon. Vertrau mir. Reiß es ab, bevor du ihm die Seite gibst. Und pass auf, dass du den Rest nicht beschädigst.«
Ein Knurren löste sich aus Rupertins Kehle.
»Gilt der Handel oder nicht?«, fragte Ken.
Santino lächelte schmal.
»Einverstanden«, grollte Rupertin. »Aber ich will es gleich haben.«
Ken blickte sie fragend an.
Marielle nickte. Sie fühlte wieder Boden unter ihren Füßen. Nur die Kätzchen in der Decke zappelten, dass ihr allmählich der Arm erlahmte. »Gib es ihm. Aber nicht das Gedicht. Das kriegt er, wenn er seinen Teil des Handels erfüllt hat.«
»Die Buchseiten sind Portale«, sagte Ken. »Nicht wahr?«
Sie hatten sich nebeneinander auf ein Mäuerchen gesetzt, das den verwilderten Garten der Villa begrenzte. Vor ihnen schwankte ein Wäschekorb aus Weidenruten hin und her, in den sie die Kätzchen gesetzt hatten. Ein paar hatten sich darin zusammengerollt, die anderen fanden es höchst unterhaltsam, die Seitenwände zu erklimmen und das Ding zum Schaukeln zu bringen. Nessa lag in der Astgabel eines Tulpenbäumchens.
»Woher wusstest du es?«, fragte Marielle.
»Ich wusste es nicht. Aber Aan’aawenh machte so viel Aufhebens um die erste Seite. Und dann sagte sie, wegen dem Riss und dem bevorstehenden Weltuntergang, sie hätten zuvor nicht gewusst, wohin sie gehen sollten, aber das hätte sich nun geändert.«
»Das Gedicht ist der Schlüssel.« Marielle hob den Kopf, als die Sonne sich hinter ein paar Wolken hervorschob. Sie war dankbar, dass Ken nichts wegen Rupertin sagte. Seinen Spott hätte sie jetzt nicht ertragen.
Hammerschläge hallten vom Hof herüber. Rupertin werkelte an seinem Wagen herum, und Santino war bei ihm geblieben, um sicherzustellen, dass der Händler nicht auf dumme Gedanken kam.
»Was wird mit den Kätzchen?«
»Was meinst du?«
»Es sind doch nur Kätzchen. Warum lassen wir sie nicht frei, damit sie sich Mäuse suchen und einen netten Schuppen, in dem sie es sich gemütlich machen können?«
Und von den Spalthunden gefressen werden?
»Ähm, nein.« Er rieb sich die Schläfen. »Ich meine, es sind Katzen! Seit wann müssen die sich vor
Weitere Kostenlose Bücher