Purpurfalter
Der Henker stand bereits neben der Guillotine. Er hob die fleischigen Arme, um seine Kapuze, die nur seine Augenpartie frei ließ, zurechtzurücken. Dann stemmte er erwartungsvoll die Hände in die breiten Hüften.
Loreena ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Die Menge tobte. Sie kreischten und zeterten. Tränen flossen. Gejammer schallte im Innenhof wider. Selbst Klavorn und Wolweer schauten fassungslos zu ihr hinauf. Loreena musste hart kämpfen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Wer hatte ihr das angetan? Argwöhnisch beäugte sie Amorgene. Das Lächeln der Vampirin, die an Wors Arm hing, schmerzte.
„Möchtet Ihr eine Kapuze tragen?“ Schomuls Stimme klang das erste Mal, seit sie sich getroffen hatten, unsicher.
Während Loreena das Haupt schüttelte, kam er näher heran. Glänzten seine Augen?
Plötzlich flüstert er: „Es tut mit Leid.“
Sie schluchzte leise. Musste er das sagen? Traurig und verzweifelt schaute er sie an. Sie verstand Schomul nicht. Sie hatte ihn nie verstanden. Er schmiss sie den Wölfen zum Fraß vor, um sie dann zu retten. Doch diesmal schien er eine Rettung nicht zu wollen oder zu können. „Ihr müsst es nicht tun.“
„Ich habe keine Wahl.“
„Ihr seid das Oberhaupt. Das sagtet Ihr selbst. Ihr könntet…“
„Auch ich habe Verpflichtungen.“
„Ihr wollt nicht.“
„Mehr als alles andere in Krisis.“ Schomul atmete schwer. „Oft habe ich Euch in Schutz genommen. Täte ich es diesmal, würde ich meine Glaubwürdigkeit und Immunität verlieren.“
„Selbstverständlich ist dies wichtiger für Euch.“
„Ich bin eins mit meinem Amt.“
Loreena nickte und lächelte bekümmert, wusste sie doch, dass er sein ganzes Leben als Mensch darauf ausgerichtet hatte, als Vampir aufzusteigen, um Valkenhorst zu verändern. Aber alles brauchte seine Zeit. Dass er die Bewohner Ingrimms nicht knechtete, war Wagnis genug. Loreena zu begnadigen hätte ihn zu Fall gebracht.
Erhobenen Hauptes schritt sie auf den Henker zu, der seine Hose am Ledergürtel hochzog. Schwer lastete sein Bauch auf dem Gürtel. Das Wehklagen der aufgebrachten Menge schwoll an.
Über die Schulter hinweg wandte sich Loreena zum Abschied leise an Schomul: „Er ist ein Freund. Mein Herz gehört einem anderen Mann.“
Der Graf trat an ihren Rücken heran. „Wovon sprecht Ihr?“
Sein Atem, der noch immer wie die Brise in kühlen Morgenstunden roch, streichelte ihre Ohrmuschel. Sie schloss die Augen. Seine Nähe, ein letztes Mal wollte sie seine Nähe spüren, um sich im Moment ihres Todes daran zu erinnern. „Im Kerker habt Ihr mich gefragt, ob ich Mogall...“
„Loreena.“ Seine Stimme zitterte. „Wen liebt Ihr?“
„Das ist nicht mehr wichtig.“
„Doch. Es könnte…“
„Nein.“ Die Wahrheit konnte sie nicht retten. Sie würde für Ingrimm sterben und damit einen Aufstand anzetteln.
Kaum hatte Loreena die Augen geöffnet, zog der Henker das Fallbeil mit Hilfe eines Seils hoch und befestigte dieses an der Guillotine. Gamtams Aufschrei. Irgendwo in der Menge. Loreena fuhr herum. Die Köchin musste die Schafottgeräusche erkannt haben. Ihr Gehör war das beste in ganz Ingrimm. Suchend schweifte Loreenas Blick über die Gesichter. Könnte sie doch ein letztes Mal in Gamtams milchige Augen sehen und über das schwarze Haar mit den wunderschönen Silberstreifen streicheln! Die Köchin mit der rauchigen Stimme wäre die Einzige im Reich, die Loreena beruhigen konnte. Loreena fühlte sich, als würde sie die ganze südliche Krisis auf den Schultern tragen. Ihr Rückgrat würde bald schon unter der Last brechen. Das war alles zu viel. Sie hatte gekämpft – um Ingrimm, um die Gunst Schomuls, um Freiheit – und verloren.
„Haltet ein!“, schrie ein Mann außer Atem, als wäre er von Wölfing nach Küstenmark gelaufen. Eilige Schritte auf dem Schafott.
Erstaunt sah Loreena Mogall auf der obersten Treppenstufe stehen, völlig außer Puste. Er sah mitgenommen aus. Getrocknetes Blut klebte an seiner Stirn. Würgemale färbten seinen Hals blau. Mit der rechten Hand stützte er sich am Geländer ab. Die linke Hand hielt etwas hoch. Loreena erkannte es sofort. Die Versammelten ebenfalls und wurden unruhig. Menschen und Vampire drängelten sich enger um das Schafott. Wor bahnte sich einen Weg zur Treppe. Er zog Amorgene, die sich immer noch bei ihm eingehakt hatte, mit.
Panik entstellte ihr schönes Antlitz. Lomas stürzte ebenfalls herbei, dicht
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