Purpurschatten
haben sich oft geschrieben«, bemerkte Brodka aufs Geratewohl.
»So, so«, entgegnete der Alte. »Aber kommen Sie doch erst einmal herein, junger Mann.«
Verstohlen schaute Brodka sich um. In gewisser Weise ähnelte die Einrichtung der im Haus seiner Mutter. Er hoffte, Hilda Keller würde jeden Augenblick erscheinen, doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht.
Deshalb fragte er, nachdem sie längere Zeit geschwiegen hatten: »Könnte ich Ihre Frau sprechen, Herr Keller?«
»Tut mir leid«, sagte der alte Mann, »das ist leider nicht mehr möglich. Sie verstehen gewiß.«
Brodka nickte mitfühlend. Er vermutete, daß Hilda Keller tot und jede weitere Frage unangebracht sei.
Keller beendete das Rätselraten, indem er sagte: »Sie ist in einem Heim, wissen Sie.« Als Brodka verdutzt schwieg, fuhr Keller fort: »Sie hat den Verstand verloren. Alzheimer, wissen Sie …«
»Das … tut mir leid«, erwiderte Brodka stockend. »Entschuldigen Sie meine Frage.«
Keller nickte. Erst jetzt bot er Brodka einen Stuhl an. Er selbst nahm ebenfalls Platz und saß dann steif wie eine Statue da; die Hände lagen flach auf den Schenkeln, die Beine waren kerzengerade ausgerichtet. »Es gibt Tage, da erkennt sie nicht einmal mich. Dann trägt sie mir Grüße an ihren Mann auf. So etwas muß man erst einmal verkraften.«
So sehr Kellers Worte ihn berührten – Brodka erkannte, daß seine Reise vergeblich war.
»Aber vielleicht«, sagte der alte Mann, »kann ich Ihnen einen kleinen Gefallen tun. Warten Sie bitte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.«
Keller verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem kleinen Stapel Briefe zurück, den er Brodka mit den Worten reichte: »So, so. Das sind Briefe Ihrer Mutter. Ein paar hat Hilda aufgehoben. Nicht alle, aber ein paar. Es wird Hilda nichts ausmachen, wenn ich sie Ihnen überlasse. Hilda weiß gewiß nichts mehr damit anzufangen.«
Soviel Entgegenkommen hatte Brodka von dem alten Mann nicht erwartet. »Sie wissen gar nicht, welche Freude Sie mir damit machen«, sagte er. Er hoffte, in den Briefen irgendeinen Hinweis auf das geheimnisvolle Leben seiner Mutter zu finden.
»Und dann wäre da noch …«, sagte Keller, als Brodka sich zum Gehen wandte.
»Ja?« fragte Brodka.
»Ach, nichts«, antwortete Keller und reichte Brodka noch einmal die Hand, wobei er sich ein Lächeln abrang.
Während eines äußerst unruhigen Fluges entlang der Alpennordseite begann Brodka die Briefe zu lesen. Es waren zwölf die sich über einen Zeitraum von acht Jahren erstreckten.
Die Briefe entpuppten sich als Momentaufnahmen aus dem Leben Claire Brodkas – nicht gerade weltbewegende Ereignisse, die sie ihrer Schulfreundin mitteilte. Brodka hatte die eine oder andere Bemerkung über ihn erwartet, oder Klagen über das distanzierte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, doch er fand keine Zeile darüber.
All die Nebensächlichkeiten und Nichtigkeiten, die Claire Brodka in den Briefen erwähnte, schienen ihr von größerer Bedeutung gewesen zu sein als das Leben ihres Sohnes. Vieles blieb Brodka unverständlich und handelte von Leuten, die er nicht kannte, und von Erlebnissen, über die er nichts wußte und die alles andere als ein Hinweis darauf waren, wonach er suchte.
Bis auf einen hatte Brodka bereits alle Briefe überflogen. Über den Passagieren flammten die Schilder ›Fasten Seat Belts‹ auf. Die Maschine kämpfte mit immer stärkeren Turbulenzen. Frischluft zischte aus den Düsen über den Köpfen der Passagiere. Brodka, der in seinem Leben viele Flüge erlebt hatte, ließ sich durch das Rütteln und Schütteln der Maschine nicht aus der Ruhe bringen. Er faltete den letzten Brief auseinander.
Er unterschied sich auf den ersten Blick kaum von den übrigen. Der Brief war erst anderthalb Jahre alt und betraf gemeinsame Jugenderlebnisse. Claire schien ihn in depressiver Stimmung verfaßt zu haben, denn sie schrieb von ihrem ›verpfuschten Leben‹, von Fehltritten und Irrtümern, ohne ins Detail zu gehen. An einer Stelle schrieb sie von ›einem störrischen alten Mann – du weißt schon. Als ich ihn gestern im Fernsehen sah, bin ich erschrocken.‹
Störrischer alter Mann? Aufmerksam las Brodka weiter und stutzte, als er einen anderen merkwürdigen, scheinbar völlig zusammenhanglosen Satz las: ›Kardinal Smolenski ist ein Teufel. Die meisten von seiner Sorte sind keine Heiligen, sondern leibhaftige Teufel. Wie kann man mir das alles antun!‹
Smolenski – den Namen hatte
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