Purpurschatten
ausgerastet bin?« flüsterte Brodka schließlich.
Juliette nickte. »Ich habe deine Mutter zwar nie kennengelernt, aber die Frau auf dem Foto sieht genauso aus wie die alte Dame, die wir im Stephansdom gesehen haben. Sie trägt sogar das gleiche karierte Kostüm.«
Brodka brachte keinen Ton hervor. Juliette bemerkte, daß seine Unterlippe zitterte. Er preßte die Hände auf die Tischplatte und wagte nicht, das Bild zu berühren.
»Nein, Brodka«, sagte Juliette nach längerem Schweigen, »du bist nicht verrückt. Aber frage mich bitte nicht nach einer Erklärung. Nach meiner Auffassung gibt es zwei, und eine ist so furchtbar wie die andere. Entweder war die Frau im Dom wirklich deine Mutter. Oder irgend jemand hat die Geschichte inszeniert, um dich fertigzumachen …«
Brodka nickte stumm. Seine Gedanken tanzten, schlugen Kapriolen. Er hatte sich schon damit abgefunden, nicht mehr richtig im Kopf zu sein, doch nun auf einmal stellte sich die Situation ganz anders dar. Er war das Opfer eines Komplotts. Aber wie sollte er das denen, die ihn festhielten, klarmachen?
In seinem Gehirn hämmerte nur der eine Gedanke: Du mußt hier raus!
Er musterte den Pfleger von der Seite, ob der ihre Unterhaltung belauschte, und fragte Juliette im Flüsterton, ob sie wisse, wie lange man ihn noch hierbehalten wolle.
Sie antwortete mit einem Achselzucken, beteuerte jedoch, sie werde die besten Anwälte und Gutachter nehmen, um ihn hier rauszuholen. Gleich anschließend habe sie ein Gespräch mit dem Stationsarzt.
Brodka beugte sich zu ihr vor und flüsterte: »Länger als drei Tage halte ich das nicht mehr aus. Bitte, hol mich hier raus, sonst gehe ich vor die Hunde. Hast du Geld bei dir?«
»Ja«, antwortete Juliette erstaunt. »Wieviel brauchst du?«
»Zehntausend Schilling. Besser noch mehr«, flüsterte Brodka.
Juliette fragte gar nicht erst, wozu er in der geschlossenen Anstalt soviel Geld brauche; statt dessen öffnete sie unter dem Tisch ihre Tasche und schob Brodka ein paar gefaltete Scheine zu. Vom Pfleger unbemerkt, ließ er das Geld in der Tasche seines Bademantels verschwinden.
Kaum hatte das Geld den Besitzer gewechselt, klopfte der Pfleger mit seinem Schlüssel auf die steinerne Fensterbank, als hätten sie die Zeit schlafend zugebracht, und rief mit energischer Stimme: »Sprechzeit zu Ende!«
Brodka verabschiedete sich mit einem langen, innigen Kuß von Juliette. Er hörte noch, wie sie sagte: »Wir schaffen es!« Dann ging er mit gesenktem Kopf neben dem Aufpasser denselben Weg zurück, den sie gekommen waren.
Brodka merkte sich jeden Schritt.
Der lange, schlaksige Stationsarzt hieß Dr. Saulus und war ein ausgemachtes Ekel. Die meisten fanden ihn seltsam, er hingegen hielt sich für äußerst interessant. Man mochte ihm seine Marotten verzeihen, die er im jahrelangen Umgang mit verhaltensgestörten Patienten angenommen hatte – sein unkontrolliertes Augenzwinkern, oder daß er sich ständig mit Daumen und Zeigefinger am Ohrläppchen zog –; aber daß er Juliette, kaum daß sie in seinem Sprechzimmer Platz genommen hatte, mit gierigen Blicken verschlang und sie von Kopf bis Fuß musterte, als hätte er seit Jahren keine Frau mehr gesehen, war mehr als unverschämt. Es war beleidigend.
Am liebsten wäre Juliette aufgesprungen und hätte das Zimmer verlassen, dann aber besann sie sich eines Besseren. Sie brauchte diesen Mann, wollte sie Brodka so schnell wie möglich helfen.
Der Raum unterschied sich kaum von den Sprechzimmern anderer Ärzte, die mit einem Schreibtisch, einem Glasschrank, einem Untersuchungsstuhl und einer plastikbespannten Liege ausgestattet sind. Dennoch wirkte die Atmosphäre beklemmend. Das Zimmer war von irgendeinem Geruch durchdrungen, den Juliette noch nie wahrgenommen hatte; es roch säuerlich und leicht scharf. Die vergitterten Fenster wirkten schon abweisend genug, aber daß es an den Türen keine Klinken, sondern Knöpfe gab, die man auf ganz bestimmte Weise betätigen mußte, verursachte in ihr ein Gefühl der Angst.
»Sie heißen Collin. Warum heißt Ihr Mann Brodka?« erkundigte sich der Arzt.
»Wir sind nicht verheiratet«, antwortete Juliette wahrheitsgemäß, fügte jedoch eine Lüge an: »Aber wir leben seit Jahren in einer eheähnlichen Gemeinschaft. Herr Brodka hat keine weiteren Angehörigen.«
Dr. Saulus rieb mit der Rechten über den Handrücken seiner Linken und erwiderte, ohne Juliette anzuschauen: »Dann sind Sie im Grunde gar nicht verwandt, und ich
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