Pusteblume
Minuten vergangen, seit wir hier weggegangen sind. Der Schlaf der letzten Nacht ist wie weggeblasen.«
»Dasselbe noch mal von vorn.« Tara lachte angespannt.
»Das ist erst der…«, Liv zählte mit Hilfe ihrer Finger nach, »… der fünfte Tag.«
»Ich weiß«, sagte Milo. »Es kommt einem vor, als wäre es der tausendste.«
»Aber vielleicht darf er ja morgen nach Hause«, sagte JaneAnn voller Hoffnung.
»Vielleicht«, meinten die anderen, und diesmal versuchten sie nicht, sich gegenseitig etwas vorzumachen. Wenn die Untersuchungsergebnisse in Ordnung waren, konnte Fintan die Behandlung für den Lymphdrüsenkrebs ambulant machen.
Zufälligerweise ging es ihm an dem Tag tatsächlich besser als an den Tagen zuvor. Obwohl die Schwellung an seinem Hals noch sichtbar war, lag er nicht so matt da, war auch nicht ganz so gelb, und er aß etwas und behielt es bei sich. Die Stimmung entspannte sich ein wenig. Alles würde ein gutes Ende nehmen.
»Wann kommt Thomas zu Besuch?« fragte Fintan Tara schnippisch.
»Ich weiß nicht.« Sie errötete. »Er hat sehr viel zu tun, mit seiner Arbeit und dem Fußball…«
»Sag ihm, daß ich ihn gern sehen würde.« Fintan grinste. »Ich würde bestimmt schneller gesund.«
»Ich werde es ihm ausrichten.«
»Sag ihm, er soll es für dich tun«, drängte Fintan. »Für die Frau, die er liebt.«
»Mach ich«, versprach Tara verwirrt. Natürlich hatte sie Thomas gebeten, mit ihr ins Krankenhaus zu kommen und die O’Gradys kennenzulernen, aber er hatte sich hartnäckig geweigert. »Ich will nicht heucheln«, sagte er, und damit war das Gespräch beendet.
Aber was ging in Fintan vor? Er haßte Thomas.
Taras Überlegungen wurden unterbrochen, als Fintans Freunde Frederick, Claude und Geraint ins Zimmer kamen, alle mit einem lauten »Hi« begrüßten und ihre Gaben absetzten. Man rückte zusammen. Kurz darauf kamen noch Harry und Didier, und dann Butch und Javier.
Fintan hatte pausenlos soviel Besuch, daß sich manche Gruppen auf dem Flur versammelten, wo lebhafte Gespräche geführt wurden, wo gescherzt und gelacht wurde und neue Verbindungen entstanden. Schon nach wenigen Tagen hatte ein Mann namens Davy, ein Freund von Javier, mit Harrys Freund Jimbob geschlafen, den er auf Fintans Station kennengelernt hatte.
»Station siebzehn«, sagte Fintan belustigt, »wo Liebesgeschichten ihren Anfang nehmen.« Er witzelte darüber, daß einige seiner Freunde ins Krankenhaus kamen und ihn gar nicht besuchten, weil sie von so vielen attraktiven Männern auf dem Flur abgelenkt wurden. Er ging sogar soweit anzudeuten, daß manche Besucher ihn gar nicht kannten.
Um den Freunden Fintans Platz zu machen, zogen sich Liv, Tara und Katherine in einen Aufenthaltsraum zurück, wo Liv ein paar Fragen stellte, die ihr seit einigen Tagen auf den Nägeln brannten. »Timothy ist verheiratet, richtig?« fragte sie betont lässig.
»Genau.«
»Und Ambrose ist verheiratet? Und Jerome auch?«
»Ja.«
»Und warum ist Milo nicht verheiratet? Ist er auch schwul?«
»Nein«, sagte Tara. »Aber er hat eine Enttäuschung mit einem Mädchen erlebt.«
»Eine Enttäuschung?« rief Liv. »Was meinst du damit? Ist das wieder eine von euren komischen irischen Redensarten?«
»Es bedeutet, sie hat ihn sitzengelassen«, erklärte Katherine. »Er war mit einer Frau namens Eleanor Devine verlobt, sie waren, wie man so sagt, ›übereingekommen‹, und dann ist sie abgehauen.«
»Warum?«
»Sie wollte nicht Bauersfrau werden. Sie ist nach San Francisco gezogen und macht jetzt Konzept-Kunst.«
»Wie sah sie aus?« fragte Liv mit bebender Stimme. »Häßlich? Fett?«
»Sie sah gut aus, würde ich sagen«, erwiderte Katherine.
»Wie gut?« bohrte Liv weiter. »Auf einer Skala von eins bis zehn.«
»Fünf.«
»Vier, vielleicht nur drei.« Tara stieß Katherine in die Rippen. »Sag uns doch, warum dich das so brennend interessiert.«
»Er ist ein Meter fünfundachtzig«, sagte Liv verklärt, »er ist gebaut wie ein Kleiderschrank, er hat lange, schwarze, glänzende Haare…«
Katherines Miene verdüsterte sich, als Liv die glänzenden Haare erwähnte.
»… dunkelblaue Augen und ein reizendes Lächeln.« Liv schüttelte die kleine Träumerei ab. »Es gibt keinen besonderen Grund…«, sagte sie, und alle lachten.
»Du meinst es nicht ernst, oder?« fragte Tara. »Natürlich meine ich es ernst.«
»Aber«, wandte Tara ein, »aber du bist Schwedin, du hast Stil, du bist Innenarchitektin, und er … er ist
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