Qiu Xiaolong
zuckte. »Nicht genug Respekt für einen großen Dichter! Morgen gehen wir woandershin. Heute ist es zu spät. Bitte versuchen Sie die Schildkrötensuppe. Die ist gut für das Yin. Sie wissen schon, das brauchen wir Männer.«
Es war eine riesige Weichschildkröte. Stolze zwei Pfund. Bei ungefähr achtzig Yuan pro Pfund auf dem Markt von Guangzhou mußte die Suppe über einhundert Yuan gekostet haben. Der enorm hohe Preis hatte mit einem medizinischen Aberglauben zu tun. Schildkröten, die hartnäckig zu Lande und zu Wasser überlebten, galten als lebensverlängernd. Chen akzeptierte, daß sie nahrhaft waren, aber warum sie im Sinne des Gleichgewichts von Yin und Yang gut für das Yin sein sollten, vermochte er absolut nicht nachzuvollziehen.
Doch Chen blieb keine Zeit zum Nachdenken. Immer wieder häufte sein eifriger Gastgeber Ouyang ihm in seine Schale, was er für kulinarische Hochgenüsse hielt. Nach der zweiten Runde Maotai-Wein verspürte auch Chen, wie in ihm ein Gefühl der Hochstimmung aufkam. Ausgezeichnetes Essen, ausgereifter Wein, die flinke junge Kellnerin, die sie bediente, strahlend wie der Mond. Die aromatischen Düfte der Nacht von Guangzhou waren berauschend.
Vielleicht war Oberinspektor Chen vor allem von seiner neuen Identität berauscht. Ein anerkannter Dichter, der von einem Anhänger verehrt wurde.
»Neben dem Weinkrug ist das Mädchen der Mond, / Die nackten Arme weiß wie Frost«, zitierte Chen einen Vers von Wei Zhuangs »Erinnerung an den Süden«. »Ich bin versucht zu denken, daß Wei eine Szene in Guangzhou beschrieben hat, gar nicht weit von diesem Restaurant.«
»Diese Zeilen muß ich in mein Notizbuch schreiben«, sagte Ouyang und schluckte einen Löffel Haifischflossensuppe. »Das ist Dichtkunst.«
»Das Bild der Straßenschenke ist in der klassischen chinesischen Dichtkunst sehr beliebt. Es hat seinen Ursprung möglicherweise in der Liebesgeschichte von Zhou Wenjun und Sima Xiangru zur Zeit der Han-Dynastie. Am Tiefpunkt ihres Lebens mußten die Liebenden sich durch den Verkauf von Wein in einer kleinen Schenke durchbringen.«
»Wenjun und Xiangru«, rief Ouyang aus. »O ja, ich habe eine Guangzhou-Oper über ihre Romanze gesehen. Xiangru war ein großer Dichter, und Wenjun brannte mit ihm durch.«
Das Abendessen erwies sich als phantastisch und wurde mit einer zweiten Flasche Maotai begossen, die, weil Ouyang darauf bestand, den krönenden Abschluß der Mahlzeit bildete. Chen geriet ins Schwärmen und redete über das Dichten. Im Büro wurde seine Beschäftigung mit Literatur als Ablenkung von seinem Beruf betrachtet. Deshalb nutzte er die Gelegenheit, über die Welt der Wörter mit einem so eifrigen Zuhörer zu diskutieren.
Die junge Kellnerin schenkte ihnen weiter Schnaps ein. Weißblitzend machten sich ihre Handgelenke am Tisch zu schaffen. Ihre Holzsandalen klapperten angenehm in der Nachtluft.
Dieser Anblick und diese Klänge hatten Wei Zhuang schon vor Hunderten von Jahren in den Bann geschlagen.
Während des Gelages erfuhr Chen auch Ouyangs Lebensgeschichte.
»Vor zwanzig Jahren, als wäre es erst gestern gewesen«, sagte Ouyang. »Die Zeit vergeht so schnell, wie wenn man einmal mit den Fingern schnippt.«
Als Ouyang vor zwanzig Jahren die Mittelschule in Guang-zhou besucht hatte, wollte er Dichter werden, aber die Kulturrevolution hatte seine Träume und die Fenster seines Klassenzimmers zerschlagen. Seine Schule wurde geschlossen. Er wurde dann als gebildeter Jugendlicher auf das Land verschickt. Nach der völligen Verschwendung von acht Jahren erlaubte man ihm die Rückkehr nach Guangzhou. Er war arbeitslos. Er bestand die Prüfung für die Fachhochschule nicht, gründete aber erfolgreich sein eigenes Unternehmen, eine Fabrik für Kunststoffspielzeug in Shekou ungefähr siebzig Kilometer südlich von Guangzhou. Als wohlhabender Unternehmer hatte Ouyang jetzt alles, außer Zeit für Gedichte. Mehr als einmal hatte er daran gedacht, sein Unternehmerdasein aufzugeben, aber er erinnerte sich noch zu gut daran, wie er als gebildeter landverschickter Jugendlicher jeden Tag zehn Stunden für siebzig Fen geschuftet hatte. Also beschloß er, erst genug Geld zu machen und in der Zwischenzeit seinen Traum von der Literatur auf anderen Wegen am Leben zu erhalten. Diese Reise nach Guangzhou unternahm er zum Beispiel aus geschäftlichen Gründen, aber auch wegen eines vom Schriftstellerverband in Guangzhou veranstalteten Seminars für kreatives Schreiben.
»Das
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