Qiu Xiaolong
Schriftstellerhaus lohnt sich«, sagte Ouyang, »denn endlich habe ich einen echten Dichter kennengelernt.«
Das stimmt nicht ganz, dachte Chen, während er mit seinen Stäbchen ein Bein von der Schildkröte riß. Doch neben Ouyang sitzend, fühlte er sich wirklich als Dichter, als »Profi«. Er brauchte nicht lange, um festzustellen daß Ouyang ein Dilettant war und Dichtkunst für ihn lediglich der Ausdruck persönlicher Stimmungen. Die paar Zeilen, die ihm Ouyang zeigte, waren ein spontaner Erguß, dem es jedoch an kontrollierter Form mangelte.
Offenbar wollte Ouyang länger über Poesie diskutieren. Als sie am nächsten Morgen im Restaurant Goldener Phönix ihren Morgentee, dimsum, einnahmen, kam er erneut auf das Thema zu sprechen.
Im Raum hallte es wider von sich unterhaltenden Menschen, die Tee tranken, über Geschäfte redeten und Häppchen verspeisten, die ständig auf den Servierwagen herumgeschoben wurden. Immer wieder stellten junge Kellnerinnen neue Gerichte vor. Kein idealer Ort, um über Dichtkunst zu reden.
»Die Menschen in Guangzhou sind so beschäftigt«, sagte Chen. »Wie können sie da Zeit haben für den Morgentee?«
»Der Morgentee ist ein Muß.« Ouyang lächelte breit. »Es fallt den Menschen leichter, beim Tee über Geschäfte zu reden. So pflegen sie ihre Verbindungen, bevor sie das Geschäft abschließen. Aber wir können nach Herzenslust einfach über Poesie reden.«
Nach dem Morgentee ging Chen in das Hotel, in dem Xie abgestiegen war. Das Hotel hatte eine heruntergekommene Fassade, hier kamen sicher Mädchen her, die eine Arbeit suchten. Der Mann an der Rezeption ging, ohne eine Miene zu verziehen, das Register durch, bis er ihren Namen fand. Er schob das Buch über die Theke, so daß Chen selbst lesen konnte. Xie war dort am 2. Juli ausgezogen. Niemand wußte wohin.
»Sie hat also wirklich keine Nachsendeanschrift hinterlassen?«
»Nein. Diese jungen Dinger hinterlassen keinerlei Anschrift.«
Chen mußte also auf seine Klinkenputztechnik zurückgreifen, von einem Hotel zum nächsten gehen, mit einem Foto in der einen und dem Stadtplan in der anderen Hand. In einer Stadt, die er nicht kannte und die sich so schnell veränderte, gestaltete sich das viel schwieriger, als er erwartet hatte, obwohl er eine Liste mit den Namen sämtlicher Hotels hatte.
Immer wieder wurde er mit einem Kopfschütteln beschieden.
»Nein, wir erinnern uns wirklich nicht…«
»Nein, versuchen Sie es doch beim Städtischen Sicherheitsdienst …«
»Nein, tut mir leid, wir haben so viele Gäste hier…«
Kurz, niemand erkannte sie wieder.
Am Nachmittag ging Chen in eine kleine Imbißkneipe, die sich in einer Nebenstraße befand, und bestellte eine Schale Krabbenbällchen mit Dampfnudeln. Während er da saß, fiel ihm etwas für Guangzhou Typisches auf. Er befand sich nicht in einer der wichtigsten Straßen von Guangzhou, aber das Geschäft lief gut. Die ganze Zeit über kamen Menschen und holten Plastikbehälter mit verschiedenen fertig zusammengestellten Mittagsgerichten ab, die sie mit Wegwerfstäbchen auf dem Weg nach draußen zu futtern begannen. Chen war der einzige, der am Tisch saß und auf sein Essen wartete. Die Zeit zählte hier offenbar mehr. Wie man die Veränderungen in Guangzhou auch beurteilen mochte, die Stadt war von einem Geist beseelt, den man trotz des allgegenwärtigen Slogans »Baut ein neues sozialistisches Guangzhou«, der auch auf der grauen Wand des kleinen Restaurants zu sehen war, kaum als sozialistisch bezeichnen konnte.
Guangzhou wurde in der Tat schnell zu einem zweiten Hongkong. Geld strömte in die Stadt. Aus Hongkong, aber auch aus dem Ausland. Darum zog es junge Mädchen hierher. Einige kamen, um Arbeit zu suchen, andere, um auf den Strich zu gehen. Für die städtischen Behörden war es nicht leicht, sie genau zu kontrollieren. Für Menschen aus Hongkong oder dem Ausland gehörten sie zu dem, was die Stadt an Attraktionen zu bieten hatte.
Was mochte Xie Rong in dieser Stadt tun, ganz auf sich allein gestellt? Chen verstand, warum ihre Mutter so in Sorge war.
Er rief das Polizeipräsidium von Guangzhou an, aber es gab nichts Neues. Die hiesige Polizei betrieb ihre Zusammenarbeit mit Chen nicht eben begeistert. Sie hätten, erklärte Inspektor Hua, wegen der schlechten Personalausstattung schon mit ihren eigenen Fällen Probleme genug.
Am Ende des dritten ergebnislosen Tages ging ein völlig erschöpfter Chen zum Schriftstellerhaus zurück, und Ouyang bot ihm
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